"Wir tranken aus einem goldenen Fluß"
Er hob das große, schmutzige Glas, betrachtete versonnen die goldene Flüssigkeit, die wie eine Woge gegen seine Hand schwappte, wie ein Schluck aus dem Fluß, der irgendwo
dort draußen floß und alles Schreckliche und alles Schöne mit sich trug, das an seinen Ufern geschah und war.
Ein poetischer Gedanke. Ein kitschiger Satz.
Nein, es mußte Poesie sein, weil er
nicht an Honig dachte, sondern an den Schlamm, der sich mit den Wassern eines Flusses mischte. Es waren erdige, ockerfarbene Gedanken. Ob die Dinge nun schön waren, oder häßlich, für ihn besaßen sie alle diese Poesie. Immer noch.
Alles war in diesem Glas. Die Träume eines ganzen Lebens.
Nichts war in diesem Glas als Alkohol und Fliegendreck.
Nick lachte darüber, dass er ein solches Klischee war.
Der Mann in der Bar am anderen
Ende der Welt. Unrasiert und ratlos, den Alkohol in seinem Glas sinnend betrachtend, während dort draußen die Welt vor die Hunde ging. Was waren Menschen doch manchmal für nutzlose Wesen. Nein, falsch, meistens.
Sein Zynismus war nicht
neu, abgestanden, schal. Doch hier hatte er frische Nahrung bekommen.
„Ach, was soll es“, dachte er, „heute muß eine Entscheidung fallen, sonst verfalle ich noch gänzlich diesem schrecklich billigen Zeug.“
Er hatte gehofft, dass ein kleiner Rausch die Gedanken zur Ruhe bringen könnte, die in seinem Kopf kreisten ohne zum Punkt zu kommen.
Nun hatte er den Punkt gefunden.
Er wußte nicht weiter, so einfach war das und so schwer einzusehen.
Er schluckte den brennenden Alkohol in zwei großen Schlucken hinunter. Es konnte nichts schaden, sich von innen und außen zu desinfizieren, wenn man an einem Ort wie diesem war.
Der Barmann nickte aufmunternd und wischte
seine krummen Finger an einem schmutzigen Geschirrtuch ab. Man sah ihm an, dass er nicht sein ganzes Leben lang hinter einem Tresen gestanden hatte. Schwere Arbeit hatte diesen Körper verformt.
Nick betrachtete ihn, während der
andere mit einem entrückten, traurigen Gesicht in den tropischen Regen hinaus blickte. Dicke schwere Tropfen fielen auf staubigen, roten Lehm und trommelten eine unruhige Melodie auf das Wellblechdach der Bar. Dachte er an die ausbleibende Kundschaft,
das letzte verlorene Spiel seiner Lieblingsmannschaft, oder über sein Leben nach? Man hätte ihn fragen müssen, um es zu erfahren. Doch heute war Nick nicht auf der Suche nach Geschichten.
Heute ging ihm nur eine Geschichte im Kopf herum.
Also noch ein Glas, um sie zu vertreiben oder in seinen trüben Tiefen endlich eine Lösung zu finden. In vino veritas. Und erst recht im Rum.
Hier hatten sie gesessen und getrunken, als sie das erste Mal gemeinsam aus dem Regenwald
zurückgekehrt waren.
Sie hatten schon viele Reisen zusammen unternommen, er der deutsche Großstädter und Santos, der Freund aus Argentinien.
Waren auf Berge geklettert, hatten Gletscher bestiegen, Wüsten durchwandert. Doch
niemals zuvor war Nick auf solch einem Fluß gefahren, hatte so einen Wald gesehen.
Als sie ihn überflogen und er sich von Horizont zu Horizont erstreckte, da war er ihm unzerstörbar vorgekommen. Ewig. Ein Wald, ein Fluss.
Der
Amazonas.
Schon der Name löste romantische Zuckungen in ihm aus. Er war eben Schriftsteller durch und durch. Damals.
Im Amazonasbecken hatte er zum ersten mal aus dem Füllhorn getrunken, seine Phantasie endlich genug Nahrung
bekommen, dieses nagende Hungergefühl gestillt, welches er sein Leben lang mit sich herum getragen hatte.
Ein Fluß, der sich durch Länder schnitt, einen Kontinent durchwurzelte, seinen Reichtum teilte und doch oft nichts
ließ als ein karges Überleben.
Ufer, die sich in schwarze Silhouetten verwandelten, wenn die Sonne abrupt in Finsternis verschwand, aus einem grünen Paradies, ein Refugium der nächtlichen Geschöpfe wurde.
Die vielfach
ihre Stimmen erhoben und in einen Chor aus Schreien, Krächzen und Grunzen einfielen.
Im Zelt zu liegen und dem zu lauschen!
Das Geräusch von raschelndem, verwesenden Laub unter schleichenden Tatzen, das Wispern der dicken Blätter,
auf denen vielbeinige Wesen kratzend einen Tanz aufführten, in dem es um Leben und Tod ging.
Der dampfende Urwald, wenn der Regen verklang.
Spinnen, die in Blumen hausten, Papageien, die sich an Salzlecken labten und vielfarbig in den blauen
Himmel stießen, die trägen Schuppen der Krokodile, kleine, harmlos wirkende Exemplare, wenn sie nicht ihre Mäuler aufrissen, um sie knallend über einer Beute zuschnappen zu lassen. Käfer, schillernd, seltsam, wie mit Perlmutt begossen....Fortsetzung
folgt
Kerstin Surra