Kerstin Surra
Diese Seite steckt voller Vorfreude auf das Fest. Viele Geschichten, Gedanken, Fotos und Bilder sollen Euch die Zeit bis zum Tannenbaum- Schmücken verkürzen.
Eine usselige Geschichte, ein Weihnachtskrimi, ein Reisebericht aus Peru, Märchen und Weihnachtsimpressionen, eine lustige Geschichte über eine alte Mumie und manches mehr schenke ich Euch zur Erbauung.
In diesem Sinne Hohoho und viel Freude!
Eure Kerstin Surra
Geschichten und Fotos Kerstin Surra
Schneemänner gebaut von Mika u.Maya Fritze
Ein Brief für Regina
Es war einmal ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen namens Regina. Ein lustiges, neugieriges Kind war Regina. Sie hatte viele Freunde.
Regina liebte den Sommer, weil sie dann mit ihren Freunden durch die Felder streifen konnte, sie liebte den Frühling, weil dann die Vogelkinder fliegen lernten, sie liebte den Herbst, weil dann ihr Drache hoch in den Himmel flog.
Am allerliebsten aber war ihr der Winter und im Winter die Vorweihnachtszeit, weil dann alles so festlich geschmückt und von Plätzchenduft erfüllt war. Jeden Morgen saß Regina auf den Kissen die auf der Fensterbank lagen und schaute in den Schnee hinaus, in der Hoffnung, dass der Postbote auch einmal bei ihr klingeln würde, denn sie sah ihn den Nachbarn die tollsten Briefe bringen. Frau Meier von nebenan, bekam immer einen dicken Brief von ihrem Sohn aus Übersee. Dann weinte sie immer vor Freude. So sehr konnte man sich also über Post freuen. Die Schmitzens gegenüber bekamen Briefe mit exotischen Briefmarken, aus einem Land das ganz weit weg war und ihre Freundin erhielt Post von ihrer Cousine, mit schönen Opladen-Bildchen darauf.
Nur Regina bekam keinen Brief und wurde ganz traurig. Das sah ihre Mutter und sie hatte die Idee doch einmal dem Weihnachtsmann ihre Wünsche zu schreiben. Das fand das Mädchen sehr aufregend, denn es hatte noch niemals einen Brief geschrieben. Die Mutter holte also das feinste Schreibpapier, eine spitze Feder und das Tintenfass und schon ging es los. Regina malte die schönsten Buchstaben auf das feine Papier und ihre Zunge ging vor Anstrengung hin und- her dabei. Das Schönschreiben lernte Regina gerade in der Schule und wusste jetzt endlich, wofür die ganze Mühe sich gelohnt hatte. Dann malt sie noch einen Stern und einen Tannenbaum auf den Umschlag und los ging die Post.
Dann begann das lange Warten. Zweige wurden aufgehängt, es kam kein Brief. War der Nordpol wirklich die richtige Adresse gewesen? Die gute Stube wurde geschmückt. Kein Brief lag im Briefkasten. Hatte der Weihnachtsmann einfach zu viel zu tun? Plätzchenduft erfüllte die Küche. Der Postbote ging vorbei. Der Briefkasten blieb leer, so oft man ihn auch auf- und zuklappte. Das vierte Kerzlein wurde entzündet. Da gab das Mädchen die Hoffnung auf. Traurig stand es am Weihnachtsmorgen in Nachthemd und Pantoffeln in der Diele, als sie ein Klappern hörte welches ihr Herz zum Klopfen brachte. Dann klingelte es! Der Briefträger stand in der Tür und sagte mit einem etwas verzweifelten Lächeln: “Guten Morgen liebe Regina! Leider ist der Briefkasten zu klein für all die Post die ich dir bringe!“ Mit diesen Worten drückte er dem verblüfften Mädchen einen ganzen Arm voller Briefe in die klammen Hände. Auch aus der Briefkastenöffnung lugten Briefe und Karten hervor! Mama kam und alle drei lachten über die Flut an Post. Die Nachbarin spähte neugierig herüber und die Freundin sprang aufgeregt um Regina herum, als sie die Post aus aller Herren Länder betrachtete. Da waren die verschiedensten Briefumschläge, Briefe mit bunten Marken, Briefe mit Luftpost verschickt, in feinsten Umschlägen.
Als erstes öffnet die Regina aber den obersten Brief in dem schönen glänzend roten Umschlag. Der kam vom Nordpol! Na ihr wisst sicher von wem! Vom Weihnachtsmann natürlich! Der schrieb in schönster Handschrift: „Liebe Regina, dein Brief erreichte mich heute Morgen, als ich beim Frühstück saß. Vielen Dank dafür und das schöne Bild. Ich erfahre gerade, dass du gerne Post bekommen würdest. Ich kenne ganz viele Kinder auf der Welt mit demselben Wunsch. Die habe ich alle angeschrieben und ihnen deine Adresse gegeben. Sie wollen alle deine Brieffreunde werden und würden sich über Post von dir freuen. Alles liebe, der Weihnachtsmann.“ Da war das Staunen so groß wie die Freude!
Unterm Tannenbaum wurden die lustigen, spannenden Briefe gelesen. Unter dem Lichterkranz lag auch ein ganz besonderes Geschenk für Regina: Briefpapier, ein Füller und roter Siegelwachs. Am nächsten Morgen lud das Mädchen ihre Freundinnen ein, denn für einen Menschen alleine waren es einfach zu viele Briefe. Also zog eine jede einen Brief aus dem Stapel und begann ihn zu beantworten. Und so fort, bis der letzte Brief gelesen war. Viele wunderbare Brieffreundschaften entstanden und noch als Erwachsene stand Regina stets zeitig am Fenster, um nach dem Postboten zu schauen. Besonders in der Weihnachtszeit, weil die Briefe dann so festlich waren. Einen besonderen Brief aber schrieb Regina jedes Jahr an den Weihnachtsmann. Manchmal schickte sie eine Dose Plätzchen mit oder einen warmen Schal. Darüber freute der Weihnachtsmann sich am meisten. Sonst war er es ja, der anderen Geschenke machte.
Mögen in all den Briefen viel Liebe und weihnachtlicher Lichterglanz drinstecken. Möget ihr alle frohe Weihnachten haben und Plätzchenduft den Raum erfüllen.
Von Kerstin Surra
Das diffuse Licht, eine Mischung aus alter Funzel, bunten Birnchen hinter der Theke und flackerndem Neonlicht über dem Billardtisch, der sein eigenes Stakkato feierte, wurde von der rauchgeschwängerten Luft gebrochen und legte sich fast zärtlich über die Trostlosigkeit dieses Ortes. Wie ein Schleier aus Mitleid über den Anblick dieser Kneipe, die vielleicht schon bessere Zeiten gesehen hatte, eher aber nicht.
Das mochte an der lustlosen Gestalt liegen, die für alle diese Weihnachtswunder- lichkeiten die Verantwortung trug. Jimmy der Schmierige, wie er in Fachkreisen genannt wurde. Ehemals Tresorknacker und seit rund zwanzig Jahren stolzer Besitzer dieses Etablissement. Davor war er viel rumgekommen. Im Klüngelpütz begann seine Karriere als Ausbrecherkönig, der sein Talent viele Male unter Beweis stellen konnte, weil er stets und immer wieder in Flagranti vor einem Tresor mit einer Brechstange, Stethoskop und Bunsenbrenner erwischt wurde. Rein berufliches Interesse am Tresorhandwerk nahm man ihm nicht ab und als der Klüngelpütz geschlossen wurde, weil doch zu oft und zu viel „Durchgangsverkehr“ herrschte, im Fachjargon „gelungene Ausbrüche“ genannt, zog das geeignete Publikum dann ins nächste Loch in Ossendorf. Das hielt ihn nicht lange und er schaute sich noch einige Häuser dieser besonderen Hotelkette “JAV“ in NRW von innen an. Knast „Willich 1“ oder Knast „Willich 2“ war die Frage? Jimmy entschied für sich, „Will ich gar nicht!“ und zog bei beiden Anstalten die „Komme aus dem Gefängnis frei Karte“. Beide Male zog er aber auch denselben Trick ab, weshalb es noch schöne Presse oben draufgab. Am Schluss schnappten sie ihn doch.
Da hatte er die Schnauze voll und schulte auf Kneipenwirt um, wozu ihm das Talent nicht fehlte, wohl aber der Wille sich allzu sehr abzumühen. Denn seine Kundschaft hätte es auch gar nicht zu schätzen gewusst, wenn jetzt allzu viel Schnickschnack und Neumodischer Kram Einzug in die Stammkneipe gehalten hätte. Zunächst waren sie noch alle gekommen. Fröhliche Abende in gemütlicher Runde. Doch das wurde weniger, als sich das Viertel veränderte und die neuen Mieter vegan und nachhaltigen essen und trinken wollten. Nicht mit ihm, Jimmy Schmierig würde nicht einknicken. Er lebte von den Resten eines Einbruchs bei einem Hedgefonds Manager, für den er nie geschnappt worden war, weil dieser ungern mit der Polizei über diesen Tresor und seinen Inhalt hatte plaudern mögen und putzte mit einem alten Lappen in einem Glas herum, damit er nicht wirklich spülen musste. War ja beschäftigt. Und wen hätte es interessiert, dass Lippenstift am fleckigen Glas klebte? „Penner“, der in sich zusammen gesunken in einer Ecke schlummerte? Der Typ wohnte quasi in dieser Ecke. Jimmy ließ es zu. Er hatte ja ein warmes Herz drinnen in der fleischigen Brust. Dafür half Penner bei den Bierlieferungen, wenn es was zu Schleppen gab. Im Schleppen war er gut, kräftiger, als seine schmale Statur es erahnen ließ. Doch kaum war das Schleppen erledigt, sank er wieder auf seine Eckbank und legte den Kopf auf den Tisch, um zu träumen.
Er belegte also eine ganz Eckbank. Aber wen hätte das wiederum stören sollen? Den riesigen Pulk Menschen, die draußen anstanden, um reinzukommen? Als Jimmy das letzte Mal den Kopf nach draußen gesteckt hatte, hatte da genau ein wankender Wildpinkler an der Häuserfront gelehnt. Jimmy hatte ihn gepackt und so hingestellt, dass er in den Blumenkübel zielen konnte, in dem drei Jahre alte Geranien vor sich hin trockneten. Mit den Gedankenschweren Worten: „Muss ich nicht gießen.
Dieser Gast war aber nicht mal seiner, denn der hatte sein Bier in einem der zahllosen Kioske erstanden, die wie Pilze aus dem Erdboden gewachsen waren.
Jimmy nahm es sportlich. Wozu aufregen. Ein Glas weniger, das er ausspülen musste. Naja, Wischiwaschi, einmal durchs kalte Wasser gezogen eben.
Weihnachten. Zur Feier des Tages hatte sich Jimmy immerhin ein weißes Hemd angezogen. Erster Knopf leger offen, aufgekrempelte Ärmel, schließlich musste er arbeiten und die Haare schön gegelt, wie sich das an Feiertagen gehörte. Er machte seinem Namen alle Ehre. Penner hatte sich nicht so viel Mühe gegeben. Aber wahrscheinlich wusste er gar nicht, welcher Tag heute war.
Der erste Gast, Penner war ja Inventar, kam gegen 15.00 Uhr. Der Moppi, Stammgast, treue Seele, 40 Jahre mallocht, was ihm aber nicht das durch harte Arbeit und Fleiß durchaus verdiente Vermögen, sondern nur Ischias, Bandscheibe und Harz eingebracht hatte. Aber Moppi war jetzt keiner, der sich dauernd beschwerte. Nur manchmal, nach dem dritten Bierchen mit Schnäppschen seufzte er wie aus dem Nichts ganz laut auf und verschreckte damit die Laufkundschaft.
Dann hatte die liebe Seele für den Abend Ruhe und Moppi begann ein schönes Schwätzchen mit jedem, der nicht schnell genug davoneilte. Dabei hätte man von seinen Lebensweisheiten durchaus profitieren können. Gut, im echten Leben halfen sie meist nicht wirklich weiter, aber gut für die Seele waren sie allemal.
Moppi wackelte unruhig auf seinem Hocker hin- und her, denn die drei Bierchen, drei Schnäppschenphase mit anschließendem erlösenden Seufzer war vorüber und jetzt sollten eigentlich die Weisheiten fließen. Doch es war ja keiner da, denen er sie hätte spenden können. Penner und Jimmy waren nicht sehr empfänglich für Sinnstiftendes und kannten ja auch alle Ideen, die in Moppis Kopf heranwuchsen wie Hanfgetränkte Seerosen aus Shangrila. Sehnsuchtsvoll schaute er zur Tür, als diese sich schwungvoll öffnete. Selbst Jimmy hob für Sekunden die schweren Lider von seinem Tun. Doch herein kam nur Janine, die alte Trine, blickte in enttäuschte Gesichter und fühlte sich gleich wie zu Hause. „Hallo Jungs!“ krächzte sie mit vom vielen Paffen geschredderter Stimme. Sie hatte ne klassische Gesangsausbildung und eine kurze, glanzvolle Karriere an der Wiener Oper hinter sich. Diese zwei Wochen waren die besten ihres Lebens gewesen. Dann hatte sie gemerkt, dass ihr das alles zu stressig war, hatte den erstbesten Idioten geheiratet und lebte seit vierzig Jahren über dieser Kneipe und die meiste Zeit darin. Der Idiot war fott und die Stimme auch. Aber wahre Freundschaft, die hielt ewig. „Na Freunde? Alles klar?“ „Tach Trine, äh Janine, alles klar.“ „Weihnachten!“ brummte Jimmy. Das “frohe“ schenkte er sich. Man wollte ja nicht sentimental werden auf die alten Tage.
„Zur Feier des Tages mal ein Piccolöchen,“ krächzte Janine und setzte sich auf ihren Stammplatz.
Man schwieg sich an und war doch nicht allein. Immerhin. Da wurde einem ganz feierlich ums Herz. „Prost!“ Jimmy genehmigte sich einen. Wieder ging die Tür auf und kalt zog es in den warmen Innenraum. Ein paar Schneeflocken trieben sich bis zur Theke vor und legten sich dann schimmernd über den kleinen zerzausten Engel und gaben ihm ein wenig von seiner Würde zurück.
Niemand trat ein. Die Tür schwang wieder zu und die Dunkelheit des frühen Abends bleib draußen.
„Ganz schön kalt draußen.“ „Ja, usselig.“ „Richtig fies.“ Stille. Nur das Prickeln des Spumantes war zu hören. Und ein Seufzer, der tief aus der Brust von Moppi kam und für Erstaunen bei Jimmy sorgte.
Janine merkte nichts, denn sie dachte einfach, Moppi steckte noch in seiner Drei Bierchen, drei Schnäppschen- Phase und hätte diese jetzt erledigt. Sie wappnete sich innerlich gegen die Plattitüden und frommen Sprüche, die gleich aus Moppi sprudeln würden. Doch es bleib still. Wenigstens schön warm hier drin. Frieren mussten Jimmys Gäste nie. Das war Ganovenehre. Auch seine Bierpreise und die Frikadellen und Metbrötchen waren immer ein wenig unter dem üblichen Marktpreis. Er wusste ja, wie es um seine Klientel stand.
Die Tür der Toilette ging auf und alle starrten auf den Neuankömmling, der sich noch umständlich den Gürtel anzog. Was schwierig war, weil er einen weitausladenden roten Mantel mit weißer Litze trug.
„Ach nee, der Nikolaus!“ Moppi zeigte auf den Fremden.
Der schaute erstaunt auf, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass er nicht alleine war.
„Wo kommen sie denn her?“ Jimmy war seit Stunden in der Kneipe und hatte nicht bemerkt, dass sich ein Typ in seine Toilette geschlichen hatte?
„Weihnachtsmann!“
„Häh?“
„Ich bin der Weihnachtsmann. Der Nikolaus hat einen Bischofshut an und einen Krummstab. Aber seit mich Cocalola sponsort und meine Ausrüstung stellt, muss ich mich Weihnachtsmann nenne. Steht im Vertrag.“
„Mein Freund, wo kommst du her?“ In Jimmys Stimme schwang der drohende Ärger mit, der auf sie alle niederregnen würde. Jimmy war eine friedliche Seele, aber wenn er mal wütend war, dann Gnade und so weiter.
„Von der Toilette.“ „Die ist nur für Gäste.“ „Dann nehme ich einen Kabänes. Und son´Käsebrötchen. Man wird hungrig von der ganzen Arbeit. Früher gab es in jedem Haus Milch und Kekse. Aber heute, vergiss es.“
„Aber sach mal, wo du herkommst.“
„Aus dem Kamin natürlich.“ Moppi kannte sich aus.
„Ich hab keinen Kamin, bin doch nicht Graf Dotz,“ konterte Jimmy.
„Niemand hat heute noch Kamine. Das ist ja das doofe. Öffnet man die Türen und wird erwischt, ist das gleich Einbruch, Hausfriedensbruch.“
„Amen, Bruder!“ stimmte Jimmy bei und goss sich den Kabänes hinter die Binde. Dem Weihnachtsmann schob er einen frischen hin. Also ein Berufskollege. Der setzte sich seufzend auf einen der Barhocker. Moppi rückte gleich näher.
„Also Weihnachtsmann, nicht Nikolaus.“
„Klar, das bischöfliche Ornat passt vielleicht ins warme Patara. Aber hier, in der Schweinekälte braucht man was kuscheligeres.“
„Wo?“ Janine kam jetzt mal rübergewanzt, Piccolöschen und Glas in der Hand und setzte sich auf die freie Seite vom Niko, sorry, Weihnachtsmann.
„Patara. Das ist eine Stadt in Lykien.
„Ach, Lykien, das hab ich mal Urlaub gemacht. Schöne Insel.“
„Das war Mykonos! Janine, Mykonos.“ Jimmy zeigte auf eine Postkarte, die vergilbt und zerknickt eine Idylle aus den Achtzigern zeigte.
„Lykien liegt im römischen, später im byzantinischen Reich.“
„Ach da.“ Janine steckte die Nase in die Sektflöte und kicherte, als ihr der Sprudel in die Nase stieg.
„Heute liegt das in der Türkei.“
„Ach so, ne, da war ich noch nicht.“ Janine schaukelte auf ihrem Hocker hin- und her. Moppi fasste den Mantel an.
„Schön warm und das Rot, ne das ist schon schick.“
„Graf Dotz.“ Jimmy schüttelte verächtlich den Kopf.
„Wer ist eigentlich Graf Dotz? Steht nicht auf meiner Liste.“ Der Typ mit dem roten Mantel und dem weißen Haupthaar kratzte sich im Wallebart, während er auf eine verschmierte Liste starrte, die schier endlos schien.
„Was denn für ne Liste? Ich find das nicht gut, wenn einer Listen macht. Sind sie von der Polente?“
Moppi hatte eine saubere Weste aber immer ein schlechtes Gewissen.
„Ich bin vom Lieferservice, wenn sie so wollen.“ Der Mann verlor gerade ein wenig von seinem sonnigen Gemüt.
„Graf Dotz, das sagt man doch nur, wenn einer sich wie ein reicher Pinkel aufführt.“
Jimmy zeigte auf den warmen Mantel.
„Das ist Arbeitskleidung und gewerkschaftlich vorgeschrieben.“
„Sie sind in der Weihnachtsmanngewerkschaft?“ Moppi zeigte sich interessiert.
„Ich bin sozusagen das Gründungsmitglied. Und das einzige. Aber ja, genau.“
Moppi erkannte die Chance, eine seiner Weisheiten zum Besten zu geben. „Allein sein heißt nicht einsam sein.“
„Stimmt.“ Janine nickte. Wurde doch noch ganz gemütlich der Abend.
„Hast du nicht ein wenig Weihnachtsmusik, Jimmy?“ Jimmy brummelte was von sentimentalem Zeug. Bloß nicht den Kloß im Halse aufweichen. Am Ende würde man gar nicht mehr aufhören zu heulen.
„Ach komm!“ Janine schaute ihn treuherzig an. Da konnte das alte Ganovenherz nicht anders und drehte das Radio an. „Last Christmas“. Was sonst.
„Ach nee,“ seufzte Moppi. Jimmy verdrehte die Augen. Janine räusperte sich und krächzte:“ I gave you my heart.“ Bei „…to save me from tears…“ klang ihre Stimme schon voll und schwer wie alter Rotwein. Die anderen staunten nicht schlecht.
„Sexy!“ rutschte es Moppi heraus und schlug sich die Hand vor den Mund.
Doch Janine quittierte es mit einem Lächeln. „Ich weiß!“
Jetzt nestelte Janine in ihrer Handtasche herum. Einem flauschigen, riesigem Etwas, das bestimmt mal ein lebendiger Muppet gewesen war. Sie durchwühlte die Tiefen und Untiefen dieses Ungetüms und erwartete, dass sie im nächsten Moment Stehlampen und Kaffeekannen nebst Tassen und Untertassen daraus hervor zaubern würde. Doch stattdessen zog sie eine Zellophantüte mit einem roten Schleifchen zu Tage. Diese knallte sie triumphierend auf die Theke. Hob sie wieder hoch, zog ein feuchtes Tuch aus der Tasche, wischte den Tresen an ihrem Platz und stellte die Kekse, die durch das Zellophan schimmerten vorsichtig ab.
„Selbst gebacken!“
„Echt? Lecker!“ Moppi klatschte in die Hände.
„Hast du nicht einen Teller?“
Jimmy brummelte. Das waren genau die Sitten, vor denen er sich hier in seiner speckigen Kneipe immer verwehrt hatte.
Trotzdem zuckelte er nach links, dann nach rechts, bückte sich und zog einen Teller aus einem Stapel hervor. Dann brummelte er wieder, pustete den Staub vom Geschirr und legte eine rote Serviette darauf, auf denen er sonst seine Frikadellen kredenzte.
„Zufrieden?“ „Komm mal her.“ Janine zog ihn sich ran und küsste ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange. Über sein neuerliches Brummen freute sie sich wie eine Schneekönigin.
„Die Schneekönigin, die hat sich doch eigentlich nicht gefreut. Die war doch immer so griesgrämig und böse,“ dachte sie noch, verwarf aber den Gedanken, als sie die begehrlichen Blicke von Moppi sah. Nach den Keksen, versteht sich.
„Schätzgen, immer mit der Ruhe.“ Janine griff in seinen Nacken und zog einen kleinen Zweig Tannengrün aus seiner Kapuze. „Wo kommt der denn her?“
„Hab eben noch geholfen Weihnachtsbäume zu verkaufen. Weihnachtsgeld verdient!“ Triumphierend freute er sich darüber und über die Tatsache, dass er auch etwas zum schönen Plätzchenteller beisteuern konnte. Janine legte den Zweig an den Rand des Tellers und stolz betrachteten sie das Werk. Der Weihnachtsmann sagte: “Ach! Moment“ und griff sich in die großen Taschen, holte eine Handvoll Nüsse, ein paar zerknautschte aber noch schön duftende Mandarinen und einige in buntes Paar gewickelte Schokotäfelchen hervor, die wie kleine Geschenkestapel verpackt waren und mit einer goldenen Schleife zusammengehalten wurden.
Janine klatschte jetzt echten Beifall und dem Weihnachtsmann auf die Schulter und Moppi war ganz aus dem Häuschen. Jimmy wackelte mit dem Kopf, was ein beinah schon Zuviel an Gefühlsausbruch war und wischte noch etwas heftiger in seinem Glas herum.
„Penner, wir haben Penner vergessen.“
„Penner?“ Der Weihnachtsmann schaute konsterniert bei dieser Bezeichnung. Janine, die das missdeutete, beruhigte ihn. „Der heißt nur so. Der ist kein echter Penner.“ Sie schubste den Weihnachtsmann mit dem Ellenbogen aufmunternd in die Rippen. Der verzog schmerzhaft das Gesicht. Janine lächelte zurück.
„Das sagt man ja auch gar nicht mehr.“ Moppi hob den Finger: „Jeder Jeck ist anders und jeder nach seiner Fasson!“
„War ja nicht böse gemeint. Aber ich weiß gar nicht, wie er heißt.“
„Penner ist sein Nachname ihr Dösköppe.“ Jimmy war um die Theke herumgekommen. Etwas, dass alle Anwesenden so noch nicht während der Öffnungszeiten erlebt hatten. Ihre Blicke folgten ihm, als wäre dies das Weihnachtswunder. Der Weihnachtsmann schaute natürlich nicht erstaunt, sondern nur neugierig.
Jimmy trat vorsichtig an den träumenden Penner heran und berührte ihn sanft an der Schulter.
„Jean- Luca, steh auf, es gibt Plätzchen.“ „Jean- Luca!“ kam es wie ein Wort aus Moppis und Janines erstaunten Gesichtern.
Jean- Luca schaute hoch zu Jimmy, rührte sich aber nicht. Der versuchte es anders. „Jean, ich brauch deine Hilfe. Gibt was zum Schleppen.“
Jeans Augen leuchteten auf und behände stand er fest auf beiden Beinen.
„Er rührt sich nur, wenn er einem Helfen kann. Schon ein super Typ!“ Jimmy klopfte Jean- Luca auf die Schulter und schob ihn zum Tresen vor den Plätzchenteller. Die anderen scharten sich um den Erstaunten, der schaute, als erblicke er eine längst vergangene Erinnerung an schöne Weihnachtstage und frohe Kindheit.
Der Duft der Mandarinen stieg ihnen in die Nase, da wurde Jimmy doch weich und er murmelte: “Hab noch Rotwein und Nelken unterm Tresen. Könnte uns ´nen Glühwein zaubern.“
Helle Begeisterung dankte ihm für diesen Vorschlag. „Viel Zucker!“ trällerte Janine, die jetzt gar nicht mehr still sein konnte und das nächste Lied schon fleißig mitsang.
Als sie alle gerade in der schönsten Stimmung waren, sprang schon wieder die Tür auf und ein Rosenverkäufer stand in der Tür. „Wolle Kerze kaufen?“
„Wat? Kerzen? Amal seit wann verkaufst du keine Rosen, sondern Kerzen?“
„Ist zu kalt heute für Rosen. Niemand will Rosen, aber dachte, alle wollen Kerzen. Dachte, kann man mal versuchen.“
„Und?“ „Nee. Ich gebs auf. Für heute ist die Sache gelaufen. Sitzen jetzt eh alle unterm Baum mit der Familie und so.“ Stille herrschte nach diesen Worten. Die schöne Stimmung schien im Schornstein geraucht. Da stellte Jimmy Amal einen dampfenden Glühwein auf die Theke und sagte die unglaublichen Worte: “Geht aufs Haus.“
„Ein Weihachtwunder. Das ist ein Weihnachtswunder,“ triumphierte Janine und klopfte dem Weihnachtsmann auf die geschundene Schulter.
Amal sah es anscheinend genauso, denn er starrte ungläubig auf das Freigetränk. Dass das Bier hier nicht so teuer war wie woanders, hieß noch lange nicht, dass Jimmy sein Geld zum Fenster rauswarf. So viel Großzügigkeit hatte ihm keiner zugetraut.
„Für alle!“ muffelte er. Und schon standen vor jedem Gast ein Heißgetränk mit viel Zucker und Amaretto darin.
Wieder wurde die Schulter des Weihnachtsmannes traktiert und „Ohs und Ahs!“ tönten von Nah und Fern und füllten den Raum mit Liebe.
„Kommt, bevor er kalt wird.“ Jimmy hob sein Glas, während Amal vier angedötschte Kerzen auf den Tresen platzierte und ansteckte, schnell sein Tasse ergriff, als könnte es sich Jimmy in letzter Minute anders überlegen und alle waren ganz still und andächtig bei dem warmen Gefühl, das ihnen den Mund füllte, die Kehle hinab floss und den Magen und auch die Seele tröstete.
„Stille Nacht, heilige Nacht“ klang zart aus dem Radio und die eine oder andere Träne kullerte in den Grog.
„Was hat sie eigentlich hierher verschlagen?“
Der Weihnachtsmann räusperte sich. „Kleine Schlittenpanne.“ Das sorgte für heiteres Gelächter und die Stimmung war wieder im richtigen Lot.
„Schlittenpanne!“ Moppi konnte es nicht fassen: “Ja, mit Humor geht alles leichter.“
„Ach, schön hier, Jimmy.“ Janine griff sich Moppi und begann zu schunkeln. „Hier ist immer irgendwie Karneval,“ entschuldigte sich Jimmy bei dem Weihnachtsmann, dessen komischer Akzent jedenfalls nicht Kölsch war. „Eher so lappländisc,“ lachte Jimmy vor sich hin. Dann stopften sie die Kekse in sich rein und der Zucker und die Butter waren einfach nur Wonne.
Wieder ging die Tür auf. Irgendwie war das warme Kerzenlicht, der Mandarinenduft und die schöne Weihnachtsstimmung durch ein offenes Oberlicht, den Schornstein und unter den Türritzen hervor auf die Straße gekrochen und hatte sich in alle einsamen Gassen und zu den Haltestellen geschlichen, an denen der letzte Bus schon weg war und die Wartenden, Frierenden und Rastlosen hierher getrieben.
Wieder und wieder öffnete sich die Tür für alte Bekannte oder „fremdes Volk“ und ein jeder war willkommen. Moppi begrüßte sie mit einem aufmunternden Spruch, Janine mit einem „Hurrah! Nur Herein!“ und Jimmy mit einem augenrollenden Grummeln.
Jeder hatte etwas dabei, das er zu der fröhlichen Runde beisteuerte. Eine zerschrammte Christbaumkugel, die einer achtlos weggeworfen hatte, einen noch halben Schokoweihnachtsmann, welcher mit einem „Hallo Kumpel, harte Zeiten,“ vom Weihnachtsmann begrüßt wurde, eine Flöte, eine Geschichte. Es wurde immer wärmer und gemütlicher in der Kneipe, und deren Schäbigkeit wurde immer kleiner und kleiner. Jean- Luca holte noch mehr Hocker für alle und freute sich über die aufmunternden Worte, deren er selber keine mehr hatte.
Dann sangen sie alle Weihnachtslieder und draußen läuteten die Glocken der nahen Christmette.
Da ging die Tür noch einmal auf und ein schmales Mädchen in rotem Kleid und Mantel mit weißem Fellbesatz stand dort und schaute sich suchend im Raum um. Dann winkte sie dem Weihnachtsmann. Der nickte und erhob sich. „Willst du schon gehen?“ Moppi und Janine drückten ihn mal fest ans Herz. „War schön, dich kennen zu lernen.“ „Ja, fand ich auch. Hab leider noch einiges zu tun, heute Nacht.“ „Ja, die Arbeit hört nie auf, “philosophierte Moppi.
„So ist es, Bruder,“ lachte der Weihnachtsmann.
Dann dankte er dem Wirt mit einem Handschlag, gab ihm ein:“ Hier könnte ein schöner Treffpunkt entstehen, mach was draus!“ mit auf den Weg und schlug Jean- Luca auf die Schulter.
Das elfenhafte Mädchen winkte jetzt heftiger und erntete ein: “Ja doch, manche Geschenke dauern eben länger. Rennschlitten wieder in Ordnung?“
„Ja, alles Roger.“ „Fein, Dankeschön.“ Er warf einen letzten Blick zurück in die warme Stube und nutzte das Licht, um etliche Namen auf seiner Liste durchzustreichen. „Wunsch erfüllt! Weihnachten nicht alleine sein. Erledigt. Und der eine Wunsch, was wieder gut zu machen, auch!“
Das Elfenmädchen schaute noch mal in die Kneipe, sah die fröhlichen Menschen und flüsterte:“ Ich glaube, das hält auch über Weihnachten hinaus.“
„Das glaube ich auch. Wenn das kein Weihnachtswunder ist,“ sprachs und schlug dem überraschten Mädchen leicht auf die Schulter. Eine haarige Schnauze versuchte an dem Weihnachtsmann vorbei in die Wirtschaft zu schauen und schnupperte den Glühwein.“ „Nicht doch Rudi, nicht im Dienst!“ Das Elfenmädchen reichte dem Weihnachtmann wie zur unausgesprochenen belustigten Antwort ein Pfefferminzbonbon. Es erhielt zum Dank einen Keks, den der Weihnachtmann vom Tresen für sie stibitzt hatte. Dann schob er das Rentier zurück zu den anderen, bestieg mit seinem Elfenmädchen den Schlitten und stob hinauf in den Nachthimmel. Niemand sah es, außer Jean- Luca, der es gleich gewusst hatte. Der winkte dem Gespann lachend hinterher und ging dann zurück zu seinen Freunden, um den schönsten Heiligen Abend seit langer Zeit zu feiern. Mal sehen, wen er morgen zum Krippenschauen würde überreden können.
„Das wird fein,“ dachte er.
Ende
Usselige Weihnachten
Von Kerstin Surra
Die ranzige Kneipe war festlich mit einem kleinen Werbe- Pappaufsteller einer Lightbeer- Marke geschmückt, auf der ein Weihnachtsmann fröhlich den weißen Rauschebart in den Schaum des Glases steckte. Seine blitzenden Augen und der nach oben gereckten Daumen kündeten von Hochgenuss und Wohlbefinden. Ein vertrockneter Tannenzweig, der auch nicht sein erstes Weihnachtsfest gesehen hatte, hing von Heißkleberresten zusammengehalten, über dem Tresen. Ein winziges zerzaustes Engelein im angestaubten Ornat kündete den Menschen ein Wohlgefallen und klebte standhaft in einer Bierlache fest, wahrscheinlich bis Ostern oder seit Ostern, wer hätte es wissen können. Nur der Mensch, der diesen Tresen regelmäßig säuberte. Und der musste erst noch geboren werden.
Die Weihnachtsmörderei
Ein Weihnachtskrimi
Von Kerstin Surra
23.12.2019
Als John die Einladung zum Weihnachtsfest auf Lochy Castle am Loch Lochy im Briefkasten fand, seufzte er resigniert. Es musste sein, das wusste er. Das gebot die Menschlichkeit. Er würde die freudigen Lichter Londons gegen die Kälte des Hochlandes eintauschen, auf Festlichkeiten zugunsten eines traurigen Windes, nebeliger Tage und menschenleerer Landstriche verzichten.
Aber das war es natürlich nicht nur, was ihn zögern ließ. Er hatte Schlimmeres überstanden.
John war Junggeselle, nicht ganz mittellos und stammte aus einer angesehenen Familie. Er war gerngesehener Gast auf jeder Party die im Herzen des Empire gegeben wurde. Und jetzt musste es ausgerechnet das ungemütliche Schottland sein und dann auch noch das alte, gebeutelte Schloss Lochy.
Allein der Name. Seine deutsche Großmutter hatte sich ausgeschüttelt vor Lachen, als er ihr das erste Mal vom Loch Lochy erzählt hatte. Und seine Großmutter fand es normalerweise schon unter ihrer Würde auch nur den Ansatz eines Lächelns zu zeigen.
Und das Schloss war auch voller Löcher in Dach und Mauerwerk, in die der schottische Nebel kalt einzog, sobald der Sommer vorüber war. Ein Schloss war dieser Kasten niemals gewesen, eher eine letzte Bastion gegen Feinde, derer es in der schottischen Geschichte viele gegeben hatte. Leider war nicht genug Geld vorhanden, um die alte Lady auf Vordermann zu bringen. Eine Zentralheizung wäre ja nicht schlecht, funktionierende Elektrizität, Telefon. Moderne Träume, deren Erfüllung das Budget der Familie nicht hergab. Da half der alte Name nichts und all die großen Taten der Vorfahren hatten sich eher in Ruhm und Ehre als in barer Münze niedergeschlagen.
Der einzige Lichtblick in diesem Ungetüm aus Geschichte und bröckelndem Stein war seine alte Freundin Lady Jane. John und Jane waren Tür an Tür aufgewachsen, wenn man das bei zwei Landgütern so sagen konnte, die zwar direkt benachbart waren aber doch weit auseinander lagen.
Viele schöne Erinnerungen an sommerliche Flussfahrten, Picknicks, abenteuerliche Streifzüge durch das ländliche Refugium ihrer Kindheit und Jugend fielen ihm wieder ein.
John versuchte nicht sooft daran zu denken, seit Jane fortgegangen war, um den griesgrämigen Lord Dumpfbacke zu heiraten. Na, er hieß nur in Johns Vorstellungen so, aber es traf den Nagel recht treffsicher auf den Kopf.
Dieser Windbeutel von einem Lord war eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte ihm Jane vor der Nase weggeschnappt.
John erinnerte sich nur zu gut an diesen Moment auf einer Cocktail Party, als sie es ihm beichtete.
Ihm war da erst aufgegangen, dass er Jane niemals seine Liebe gestanden hatte. Für ihn war es eine ausgemachte Sache, dass sie zusammengehörten.
Was war er doch für ein Hornochse gewesen.
Es geschähe nur aus Pflichtgefühl, versicherte ihm Jane. Warum sie sich ihm so erklärte, wollte nicht in seinen Dickschädel. War das vielleicht ein Hilferuf gewesen? Eine Aufforderung ihr endlich zu erzählen was er fühlte? Aber er hatte nur verletzte Eitelkeit gefühlt. Jedenfalls in diesem ersten Moment und später war es zu spät. Pflichtgefühl. Was sollte das denn heißen? Ihre Familie war reich, die ihres Zukünftigen so gut wie verarmt. Das einzige was er besaß war sein guter Name. Dass genau dieser Janes ältestem Bruder zu einer hohen Stellung in der Politik verhelfen würde, ahnte John nicht. Das Ränkespiel der feinen Herren war ihm nicht geläufig, da er als jüngster Sohn der Familie eher ein nachsichtig behütetes Leben geführt hatte.
Dass Jane dann auch noch in diese ferne Gegend zog, war wirklich das schrecklichste Szenario, welches sich John vorstellen konnte.
Wie Jane sich dabei fühlen mochte! Sie war so jung und beliebt und lachte so gerne. Sie war eine ausgezeichnete Tänzerin und ihr Mann war all das nicht.
Einige Jahre war es still um Jane geworden. Ihr Leben sei recht trostlos, so hörte man. Doch John versuchte nicht daran zu denken.
Bis zum 14. April 1912.
Da sank die Titanic und mit ihr alles, woran das Empire geglaubt hatte. Und Francis James Butter of Londrock Dumpfbacke versank mit dem Schiff und seinem miesepetrigen Gesicht in den eiskalten Fluten des Polarmeeres. Naja, Neufundland, aber „Verschollen im Eismeer“ von Edgar Allen Poe und die Fortsetzung „Die Eissphinx von Jules Verne“ gehörten zu Johns Lieblingsbüchern. Er stellte sich gerne den Nebenbuhler auf einer einsamen Insel im Eismeer vor. Egal an welchem Pol.
Dann hatte ihn das schlechte Gewissen gepackt. Für Jane musste das alles ja schrecklich sein. Und er hoffte, dass sie jetzt schleunigst nach London zurückkehren würde, damit er sie trösten könnte. Aber das tat sie zu seiner Überraschung nicht.
Er schrieb ihr einen langen Brief, in dem er ihr sein Beileid aussprach, sie seiner Unterstützung versicherte und ihr sonst nichts von seinen Gefühlen verriet, ganz der alte John.
Das Antwortschreiben war höflich. Als würde sie sich seiner kaum mehr erinnern. Aber bestimmt in der Aussage, dass sie das Schloss nicht einfach sich selber überlassen könnte, denn noch sei die Frage der Erbfolge nicht geklärt. Ihre ganze Mitgift war an den alten Kasten gebunden. Da hatte ihr Mann ganze Arbeit geleistet. Nun stellten die Verwandten ihres Mannes Ansprüche, denn schließlich sei sie nur eine Frau und habe kein Anrecht darauf, das Erbe ihres Mannes zu erhalten. Die übliche Leier.
Das Problem war nur, dass ihr Mann gar nicht für tot erklärt worden war. Er war auch nicht gefunden worden. Sein Sarg war das tiefe Meer. Was wollte Jane in dieser Einöde, was um Himmels Willen in diesem alten Ungeheuer?
Einige Monate später erfuhren es alle, denn Jane kämpfte nicht für sich, sondern für das Neugeborene, den 5. Earl of Butterscottch. Das warf John erst einmal um.
Nun also diese Einladung. Wie konnte er eine arme Witwe alleine Weihnachten feiern lassen? Natürlich würde er alles sausen lassen und mit einem Arm voller Geschenke nach Schottland düsen.
Und jetzt saß er im Auto und fuhr in die beeindruckende Feste ein, die ein Heim sein sollte. Malerisch gelegen, das musste er zugeben, aber auch düster und unheimlich in dieser Jahreszeit.
Als er in den Innenhof einfuhr, öffnete sich eine kleine Tür oberhalb einer Treppe und eine Frau kam die Stufen heruntergesprungen.
Erst erkannte John sie mit ihrer modischen Kurzhaarfrisur kaum, aber nur kaum, denn seine Jane hätte er überall erkannt.
Sie schien keinen Tag gealtert seit ihrem letzten Treffen und genauso vergnügt und ungezwungen wie in ihren Kindertagen zu sein.
Ein paar Rundungen hier und dort machten sie noch süßer. John schluckte. Verdammt!
Jane umarmte ihn und lachend fiel er in die Wiedersehensfreude mit ein. Er hatte befürchtet eine trauernde Witwe zu sehen. Doch Jane ließ sich erst einmal nichts von Traurigkeit anmerken.
„Komm rein, die anderen sind schon da.“
„Die anderen?“
„Ja, es warten ein paar alte Freunde auf dich.“
Gespannt und etwas enttäuscht, dass er nicht der Ehrengast war, lief John hinter Jane die Stufen hinauf.
Sie betraten einen warmen, gemütlichen Raum. Die Küche, erfüllt mit Weihnachtsdüften, Plätzchen auf Backblechen und mit Nelken gespickte Orangen, die einen feierlichen Duft verströmten.
Ein Feuer im Herd machte den Raum rot glühen, samt Jane und John. Er taute langsam auf. Nicht nur seine abgestorbenen Finger, sondern auch sein kaltes Herz, das vom schottischen Winter bisher nicht so begeistert war. Nun begann er anders darüber zu denken. War nicht alles in dieser Küche, was er an Weihnachten brauchte?
Doch Jane griff seine Hand und zog ihn weiter. Sie betraten ein schönes, großes Wohnzimmer.
Hier war alles festlich geschmückt, bis auf den Baum, der noch darauf harrte, wie die vielen Kisten zeigten, aus denen Lametta und Rausche- Engel quollen.
Mehrere Leute erhoben sich bei ihrem Erscheinen und stellten ihre Whisky- und Scotch-gläser auf kleine Beistelltische.
Überrascht umringten die anderen Gäste John. Die meisten kannte er schon ewig. Alles Freunde aus Jugendtagen. Nur drei Gäste standen abseits und schauten eher gelangweilt auf den Neuankömmling.
Zuerst begrüßte John seinen alten Kumpel Zwick, der in seinen karierten Flanellhosen ganz ins schottische Hochland passte. Sie waren zusammen im Internat gewesen. Zwicks lustige Streiche waren John noch lebhaft in Erinnerung. Dann drängelte sich die kleine Nancy dazwischen. Sie schubste Zwick mit ihrer Hüfte beiseite und fiel John um den Hals.
Zwick zog sie lachend zu sich. Die beiden hatten letztes Jahr geheiratet. Nancy warf trotzdem einen schmachtenden Blick zu John. Aber das war nur gespielt. Sie lachten.
Ein großer, hagerer Bursche drückte John die Hand. James. Janes jüngster Bruder. Ihr absoluter Liebling. Nur dass er gar nicht klein war, sondern stolze 1,85 maß. Sein hübsches Gesicht wurde von einem abenteuerlichen, roten Bart umrahmt. Er war gerade von einer Himalaja Expedition heimgekehrt. John beneidete ihn um sein aufregendes Leben. Das würde wieder ein paar tolle Geschichten geben, wenn sie sich später um den Kamin versammelt hätten.
James trat zurück und ließ eine rundliche, kleine Gestalt vorbei. Francoise, die französische Cousine von Jane und James, die ihre Jugend in England verbracht hatte, da ihre Eltern immer auf Reisen gewesen waren. Lag wohl in der Familie, das Fernweh.
Ihre lustige Stubsnase reckte sich John entgegen, der sie um einige Längen überragte und selber nicht zu den Größten zählte.
Er freute sich sehr, dass Francoise auch da war, denn mit ihr gab es immer etwas zu lachen.
Dann war es an Jane, John den übrigen Gästen vorzustellen. Er verbeugte sich steif vor den Damen Roberta und Anagretha, zwei Schwestern von James Buttercup, Janes Verflossenem und ein Cousin von demselben, namens Augustus.
Sie waren anscheinend von der Familie abkommandiert worden, um hier nach dem Rechten zu sehen. So, als würde Jane das Familienwappen mit Pfefferminzsoße besudeln und das Tafelsilber verhökern.
Sie stellten es natürlich anders dar, aber letztlich lief es darauf hinaus. Die drei sahen so verbissen aus, wie John James B. in Erinnerung hatte.
John ließ sich nichts anmerken. Doch den festen Knochensprengenden Händedruck Augustus konnte er nur gerade so aushalten, ohne stöhnend in die Knie zu gehen. Das kam vom Baumstämmeweitwurf, da war sich John sicher.
Bewundernd bestaunte er die Pranken von Augustus. Seine Cousinen standen ihm aber an Kraft kaum nach, was ein wenig an Johns Selbstbewusstsein nagte.
„Wer hilft den Baum schmücken?“ Wie die kleinen Kinder griffen die Freunde in die Kisten und begannen ihr Werk. Personal schien es wohl nicht zu geben. Umso besser. Das machte doch richtig viel Spaß. Nur Roberta, Anagratha und Augustus hielten sich im Hintergrund. Sie schienen eher um das teure Muranoglas der Christbaumkugeln besorgt, als um den Lichterglanz des Baumes.
Jane winkte John, der kaum angekommen schon mitten in Aktivitäten steckte, zu sich. Heimlichtuerisch lotste sie ihn nach draußen. Hier standen sie in einer großen kalten Halle. Der Atem gefror ihnen, als wären sie im Freien.
Eine große Treppe führte nach oben und lief auf eine Galerie hinaus, die die Halle einmal umquerte.
John folgte Jane ins obere Stockwerk, wo die Schlafräume lagen. Dieser Teil der Burg war weniger anheimelnd und machte einen verwahrlosten Eindruck. Man schien sich drauf zu beschränken die Wohnräume zu heizen. In den einzelnen Schlafzimmern wurde nur des Abends geheizt. Heiße Steine im Bett ersetzten die Zentralheizung.
Leise öffnete Jane eines der Schlafzimmer. Dieser Raum war wieder gemütlich und warm. Ein junges Mädchen schlief in einem Schaukelstuhl neben einer Wiege. Das Mädchen sprang auf, als sie die Schritte vernahm. Doch sie machte keinen zerknirschten Eindruck, weil sie geschlafen hatte.
Jane stellte sie als Jeanette, das Kindermädchen vor. Sie trug keine Uniform sondern ein schlichtes Kostüm in dem sie einfach reizend aussah.
Dann beugten sich die Erwachsenen über die Wiege, um das dicke, zufriedene Baby darin zu bewundern.
Jane und John saßen in einem Alkoven und schauten auf die verschneite Landschaft hinab. Hier war von dem See, an dem das Castle lag nichts zu sehen.
Der Garten lag verlassen und etwas zerrupft vor ihnen, dann folgte ein Wald und eine weite Ebene.
Sie wickelten sich in die Decken ein, die bereit gelegen hatten.
„Nun sag mal, wie es dir geht.“ John legte sanft eine Hand auf Janes Arm.
„Ist schon gut John. Eigentlich ganz gut. Den Umständen.… Ach quatsch. Lass uns mal ehrlich sein. James war ein Mistkerl und ich bin besser ohne ihn dran. Aber dass er so sterben musste ist natürlich furchtbar.“
„Natürlich!“
„Jetzt sitz ich hier in Schottland fest und muss das Erbe meines Kindes verteidigen. Das Schloss ist so alt und leck wie mein Geldbeutel bald sein wird und dazu die Geier von Familie im Nacken.“
John nickte verständnisvoll. Soweit hatte er sich das gedacht.
„Und dass man versucht mich umzubringen.“
John hustete vor Schrecken und Überraschung die Luft in hohem Bogen aus.
„Was?“
„Jemand versucht mich umzubringen.“
„Wie, wer, wieso?“
„Tja, das sind alles gute Fragen.“
„Hast du mit der Polizei gesprochen?“
„Man nimmt mich nicht ernst.“
„Empörend.“
„Hör dir erst mal an, was ich zu sagen habe. Dann kannst du vielleicht besser entscheiden, ob du das nicht auch so siehst.“
Dann erzählte Jane dem Verblüfften von seltsamen Unfällen, die Jane keineswegs für solche hielt.
Eine Leiter, auf die sie steigen musste, um ein bestimmtes Buch aus dem hohen Regal zu holen war an der letzten Sprosse gebrochen und Jane hatte es nur ihrem turnerischen Geschick zu verdanken, dass sie sich nicht den Hals gebrochen hatte.
Die Sprosse war seltsam glatt zerbrochen, als hätte man sie angesägt, befand Jane. Doch das fand sie erst später heraus, als sie sich die Leiter noch einmal genauer betrachtete. Zunächst dachte sie selber an einen unglücklichen Zufall. Dann jedoch häuften sich solche Vorfälle und sie begann näher hinzusehen.
Ein geplatzter Reifen auf der kurvigen Straße, eine Steinfigur, die sich vom Sockel löste und aus zehn Metern knapp Jane verfehlte und einen tiefen Krater an der vorderen Front hinterließ.
Die Polizei besah sich die Umstände näher und kam zu dem Schluss, dass eine Frau nicht alleine in so einem Kasten wohnen sollte, alleine ihr Auto chauffieren musste oder auf Leitern klettern sollte. Das war ja auch recht unschicklich.
„Tja, Armut ist also doch eine Sünde, und eine moderne Frau zu sein, erst recht.“ endete Jane lachend.
„Wissen die anderen davon?“
Jane druckste herum: “Ja, deshalb sind sie da.“
John sah sie betroffen an. Alle wussten Bescheid, nur er, Seelenverwandter John nicht.
„Ich wollte wissen, ob du auch so kommen würdest.“ Jane wurde Puterrot. John spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss.
Sie brachten beide kein weiteres Wort heraus. Alte Seelen mussten das auch nicht.
Endlich nahm John ihre Hand: “Da bin ich.“
„Da bist du.“
„Und jetzt?“
„Baum schmücken?“
John musste lachen.
„Jane, du bist einmalig.“
„Weißt du, ich habe mich wirklich bemüht. Doch mein Mann und ich hatten kein Quäntchen gemeinsam.“
„Er interessierte sich nicht für Physik?“ John schaute sich lachend um und blickte in die rußenden Flammen der altmodischen Beleuchtung.
„Er verabscheute alles, was mit Wissenschaft zu tun hatte.“
„Wieso fuhr er dann mit der Titanic?“
„Prestige. Er lachte nicht gerne, er tanzte nicht, Literatur war für ihn was für Wirrköpfe. Dieser Mann war einfach nicht nett. Anfangs war er noch charmant und gefällig, doch nach der Trauung zeigte er sein wahres Gesicht. Es war eine Dummheit, ihn zu heiraten.“
„Das tut mir leid.“
„Die Grundidee zu dieser Heirat kam von ihm. Er hat meinem Vater das lukrative Angebot gemacht, seine Tochter zu einer Lady zu machen. Und dafür mit einer fantastischen Mitgift entschädigt zu werden. Mein Bruder Phillipp hat jetzt eine steile Karriere vor sich und mein Vater kann mit geschwellter Brust erzählen, dass er die Familie wieder in diese ruhmreiche Höhen flog, aus der sie einst fiel, weil sie sich in den Rosenkriegen für den falschen König entschieden hat.“
„Verachtenswerte Schacherei. Wie konnte Phillipp da mitspielen?“
„Er weiß es nicht. John, dabei muss es auch bleiben.“
„Oh Jane, warum hast du da…“
„Phillip war völlig gebrochen aus Indien zurückgekehrt. Du hast von dieser Geschichte gehört. Ich wollte etwas für ihn tun.“
„Dann hasse ich Francis James Butter of Londrock.“
„Ich inzwischen auch John, aber tot wollte ich ihn auch nicht sehen.“
„Natürlich nicht.“
„Irgendwann standen seine Verwandten vor der Tür. Sie wollten nicht, dass ich Weihnachten alleine verbringen muss. Sehr fürsorglich, nicht wahr? Und seitdem folgen sie mir auf Schritt und Tritt. Und wenn nicht einer von ihnen hinter mir herschleicht, dann ist es einer der Dienstboten.“
„Welche Dienstboten?“
„Die Köchin Bertha, der Gärtner Jonathan und das Kindermädchen. Das kennst du ja.“
„Richtig.“
„Was nun?“
„Baumschmücken.“
„Baumschmücken. Und keine Sorge, mir fällt schon etwas ein.“
Zuerst wollte John einmal alle Anwesenden unter die Lupe nehmen, die er noch nicht kannte.
Die anderen waren noch eifrig beim Schmücken und plauderten ausgelassen oder vertieften sich in ihren Whiskey.
Die Küchentür ging auf und eine rundliche Dame trat ein. Die Köchin, unschwer an Schürze und dem kleinen Pölsterchen vom vielen Probieren um die Hüften herum, zu erkennen. Resolut trat sie auf und etwas verärgert. Man sah ihr an, dass sie eigentlich nicht gewöhnt war aufzuwarten. Aber die gute Hausfrau hatte ja allen Mädchen freigegeben, damit sie bei ihren Familien feiern konnten. Sie hatte die verrückte Idee gehabt, dass alle Gäste mithelfen und die ungeschickten Hände beim Kochen, Backen und Baumschmücken einsetzen sollten. Wer hatte so etwas je gehört?
Bertha hatte keine Familie, ebenso wenig wie der Gärtner. Also waren sie geblieben, um sich darum zu kümmern, dass das Haus nicht abgefackelt wurde, weil irgendeiner von den feinen Herren das Feuer falsch entzündete, oder einen Braten zu lange schmoren ließ.
Die Gäste fanden die Idee wunderbar demokratisch und modern. Nun ja, was sollte sie machen. Das waren vielleicht londoner Sitten.
Sie trug auf einem Tablett heißen Grog für alle herein.
Hinter ihr kam lachend die kleine Nancy hergetrappelt und balancierte gefährlich ihr Tablett von einer Seite auf die andere. James sprang ihr geflissentlich bei, während Zwick der schnaufenden Bertha das Tablett abnahm. Und ihr dann zu ihrer Überraschung das erste Glas anbot. Zuerst wusste sie nicht, was er von ihr wollte und sie nahm das Tablett, das er ihr demonstrativ hinhielt zurück. Doch er schüttelte den Kopf und hielt es fest und nickte Richtung Glas. „Trinken sie einen Grog mit uns, liebe Bertha. Ihr Begrüßungsessen war so köstlich! Ich wünschte, ich könnte sie mit nach London nehmen, um jeden Tag so zu speisen!“
James war eigentlich ein asketischer Esser, aber Berthas Schmorbraten hatte es ihm angetan. Bertha lächelte wie ein verliebtes Mädchen und griff sich beherzt ein Glas. Was sollte es. Eine neue Zeit begann. Wollte sie sich dem verschließen?
Sie schaute zu Jane hinüber, doch etwas erschrocken über die eigene Tollkühnheit. Die nickte ihr aufmunternd zu und hob das eigene Glas zu einem Prosit.
Jane hatte selber längst die Nase voll von all den Ritualen, gesellschaftlichen Anforderungen und erstarrter Gleichförmigkeit. Sie träumte davon das alles über Bord zu werfen und irgendwo neu anzufangen. Doch jetzt war sie auf dieser Burg gefangen, wollte sie nicht das Erbe ihres Kindes verschenken.
Dabei würde ihr ganzes Vermögen aufgezehrt werden und langsam wusste Jane nicht mehr genau, ob das alles noch einen Sinn machte.
Versonnen nippte sie an ihrem Grog, der ihr heiß in die Nase stieg und sie wohlig einhüllte. Ihr Blick hob sich leicht über den Nebel aus heißem Alkohol und Lichterglanz und begegnete Johns liebem Gesicht.
Die Tür ging auf und etwas polterte herein. Erschrocken zuckte Jane zusammen und verriet John, dass sie die Bedrohung doch nicht auf die leichte Schulter nahm, wie sie ihm weis machen wollte.
Doch es war nur Jonathan, der Gärtner, der anscheinend ein Näschen für das gute Zeug hatte, denn als ihm ein Glas gereicht wurde, zierte er sich nicht lange und freute sich, die kalten Hände aufwärmen zu können. Brummelig grollte er ein Dankeschön und steckte die Nase in den Dampf, der aus seiner Tasse aufstieg.
Ein weiteres Mal öffnete sich die Tür. Diesmal war es Jeanette mit dem Kindelein und alle scharten sich um das schöne Gespann, um es zu bewundern.
James holte Nachschub aus der Küche, nachdem er Bertha um Erlaubnis gebeten hatte, die diese gerne gewährte und alle hoben die Gläser zu einem Toast.
Da lag Weihnachtsstimmung in der Luft und die feine Note einiger Mordversuche wie die piksenden Nadelspitzen und ein wenig von einem Gefühl wie feinstes Engelshaar dazwischen.
Der Grog war köstlich, aber für Jane nicht süß genug. Bertha wusste, dass sie ihren Grog gerne besonders süß trank, mit schön viel Zucker, doch durch das Tablettjonglieren war ihr Grog einem anderen ihrer Gäste in die Hände gefallen und als Nancy ausrief: “Uh, ganz schön süß.“, wusste sie auch wem. Jane lächelte und sagte nichts.
Als der Baum geschmückt, das Essen von vielen unbeholfenen Händen vorbereitet und der Nachmittagstee genossen war, zog man sich zurück. Doch nur vorgeschoben war das Schließen der Türen der eigenen Schlafzimmer. Als alles still war, trafen sich James, John und Jane wieder unter dem Weihnachtsbaum.
Sie hatten einen Plan geschmiedet und wollten ihn noch vor dem Abendessen umsetzen. Zuerst zeigte Jane den beiden die unleugbaren Beweise der Anschläge auf ihr Leben. Dann inspizierten sie das Haus und das Grundstück. Sie wussten nicht, wonach sie suchen sollten, doch irgendwo mussten sie ja anfangen.
Das Haus hatte Jane mit James schon auf den Kopf gestellt, so dass sie schnell im Garten waren und die kleinen Gebäude inspizierten, die zu dem Anwesen dazu gehörten.
Da waren die Ställe, die Garage und das Haus, in dem die Gartengeräte untergebracht waren, das Gewächshaus und eine Waldhütte.
Als sie diese Hütte betraten, war es John, als wäre es viel zu warm in der Hütte, als hätte bis vor kurzem jemand im Kamin eingeheizt.
„Das kann nicht sein. Im Winter benutzen wir die Hütte nicht. Sie diente den Jagdgesellschaften als Rastplatz. Doch die letzte Jagd liegt lange zurück.
Aber John hatte Recht. Die Glut im Kamin glimmte noch. Der Rauch des Kamins war vom Schloss aus nicht zu sehen. Wer hatte sich hier draußen herumgetrieben?
Sie durchsuchten die Hütte, fanden aber keinen Hinweis.
Unverrichteter Dinge kehrten sie zum Schloss zurück, wo schon helle Aufregung herrschte.
„Wo warst du Jane, wir haben dich überall gesucht. Nancy geht es sehr schlecht.“
„Was meinst du?“
„Sie klagt über furchtbare Bauchschmerzen und ist ganz grün im Gesicht. Wir haben einen Arzt gerufen.“
Jane lief sofort zu dem Sofa, auf dem Nancy bleich und sich vor Schmerzen krümmend lag und das Kissen mit ihren Händen knetete, um nicht laut zu schreien.
Jane kam ein furchtbarer Verdacht.
Der Arzt traf zum Glück schnell ein und bevor er sich über die arme Nancy beugte, flüsterte ihm Jane etwas zu. Ungläubig starrte er sie an, dann begann er flink zu handeln. Untersuchte Nancy, roch an ihrem Atem, sah sich ihre Nägel an und nickte. Zwick musste Nancy in eines der Badezimmer tragen und dann schloss der Arzt die Tür vor ihrer aller Nase.
Nach einiger Zeit kam er wieder raus und eine erschöpfte Nancy öffnete langsam die Augen und schloss sie wieder.
„Sie können sie jetzt ins Bett bringen. Ich denke wir haben das Schlimmste verhindert. Geben sie ihr diese Medizin jede halbe Stunde und dann wird alles wieder gut.“
So geschah es. Dann nahm er Jane beiseite. Sie winkte John zu sich, damit er mithören konnte.
„Sie hatten Recht. Eine Vergiftung. Was geht hier vor?“
Jane vertraute sich ihm an und ungläubig nickte er.
„Ich werde noch heute mit der Polizei sprechen. Die müssen sie nun ernst nehmen.“
Der Arzt schritt schnellen Schrittes aus der Tür und ließ Jane und John erschrocken zurück.
„Es ist also wahr.“
John nickte. „Aber wieso Nancy und wie.“
Jane erklärte ihm den Zuckergrog. Da liefen sie schnell in die Küche. Die Tassen standen noch ungespült in der Spüle. Alle Tassen waren leer, bis auf zwei.
Jane roch an den Tassen und wirklich einer der Tassen roch leicht nach Bittermandel. Die andere Tasse war demnach Janes Tasse, denn sie hatte den Grog stehen lassen, weil er ihr nicht süß genug war und Nancy hatte nur einmal an ihrem genippt, weil er ihr zu süß gewesen war. Das hatte ihr das Leben gerettet.
Doch Jane weinte nun bittere Tränen darüber, dass sie ihre Freunde in diese Gefahr gebracht hatte.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht?“
„Sie wollten es doch so. Nun müssen wir sie einweihen und gemeinsam diesen Mistkerl finden. Ob es die Köchin war? Sie wusste von deiner Naschsucht.“
„Wir müssen es in Betracht ziehen.“ Traurig schlich Jane hinter John her.
Die Freunde hatten sich vor Nancys Zimmer versammelt. Nun gingen sie hinein und besprachen die Angelegenheit, während Jane Nancys Hand hielt und sie um Verzeihung bat. Die immer alberne Nancy lag nun still und betrachtete Jane ganz ruhig:“ Dann habe ich dir das Leben gerettet. Das ist doch großartig.“
„Das beste Weihnachtsgeschenk. Und was bekomme ich, Nancy?“ Zwick alberte herum und erhielt dafür einen wohlverdienten Knuffer von Francoise.
„Danke Francy, das ist sonst meine Aufgabe. Aber ich bin zu schwach.“
Alle lachten leise. Das tat gut.
„Wir müssen jetzt gut aufeinander aufpassen.“
Das versprachen sie sich. „Ich gehe noch einmal zur Hütte zurück und nehme sie noch genauer unter die Lupe.
„Wir sollten immer zu zweit unterwegs sein.“
„Kluger Einwand, Zwick. Dann komm!“
Sie schlichen sich aus dem Haus, während James und Francoise die Küche inspizieren wollten.
Jane blieb bei Nancy und streichelte ihr die Stirn, bis sie eingeschlafen war.
Francoise fand das Gift in einer kleinen Kiste unter einer losen Steinplatte. Also doch die Köchin. James war sehr traurig. Er liebte doch ihren Schmorbraten.
Die Tür ging auf und Bertha stand in der Tür, ein Hackebeilchen in der einen Hand.
Drei Münder standen offen.
Als John und Zwick auf dem Weg zur Hütte waren, trafen sie Augustus, den düsteren Cousin aus der kleinen Kate kommend, in der der Gärtner wohnte. Er und der Gärtner standen steif vor den unerwarteten Besuchern. Die beiden Männer schauten erschrocken zu John und Zwick hin, als wären sie bei irgendeiner Schandtat entdeckt worden. Augustus hielt etwas in der Hand und steckte es schnell ein. John hätte zu gerne gewusst, was das war. Doch wie hätte er es herausbekommen sollen?
Sie grüßten einander und murmelten etwas von Spaziergang und über die Ernte sprechen.
Irgendwie lag Lüge in der Luft und niemand wollte es zugeben, also verabschiedete man sich höflich und ging des eigenen Weges.
„Den müssen wir im Auge behalten.“
„Ich finde beide sehr verdächtig.“
In der Hütte schauten sie sich genauer um und dann fand John etwas, das er nicht verstand. Er steckte es ein und sie gingen zum Schloss zurück.
Dort begegnete er Jane und Nancy, die sich erstaunlich schnell erholt hatten.
Nancy murmelte was von Vorfahren und das Wilhelm der Eroberer sich auch nicht mit einem Schnupfen ins Bett gelegt hätte.
Das Kindermädchen saß bei den Mädchen und berichtete gerade, dass sie aus dem Zimmer von Janes verstorbenen Mann Geräusche gehört hatte. Das Zimmer lag nah bei dem Zimmer, in dem sie mit Janes Sohn gesessen hatte. Sie war an die Tür geschlichen und hatte Anagretha und Roberta in den Schubladen und Schränken herumwühlen gesehen. Dann hatten sie etwas gefunden, dass ihnen offenbar einen Schrecken eingeflößt hatte.
Leider hatte der Kleine angefangen zu greinen und das hatte die Schwestern aufgeschreckt. Sie waren ins Ankleidezimmer geflohen und von da aus auf den Flur und die Treppe hinunter, während Jeanette sich im Zimmer des Gatten versteckt hatte. Sie hatte noch einmal alles genau untersucht, aber nichts gefunden.
Dann war sie sofort mit dem Kind auf dem Arm zu Jane gekommen, um ihr zu berichten.
John war erstaunt, dass Jeanette unterrichtet war.
„Ich muss zugeben, dass Jeanette kein normales Kindermädchen ist. Sie ist eine Personenschützerin und passt auf mein Kind auf. Denn wenn man es auf mich abgesehen hat, dann doch ganz gewiss auch auf den Erben.
„Ich beherrsche einige fernöstliche Kampfsporttechniken und trage eine Pistole im Mieder.“
Alle waren beeindruckt.
„Sie hat Mieder gesagt.“
Nancy kicherte verlegen.
„Das hat sie.“ James schien noch etwas beeindruckter als der Rest von ihnen zu sein.
„Wo haben sie das denn gelernt?“
Man ließ die beiden mit ihren Geschichten von fernen Ländern und Abenteuern, die sich keiner ausmalen konnte zurück und beriet sich.
„Wir müssen Anagretha, Roberta und Augustus mit unserem Verdacht konfrontieren. Wo sind eigentlich Francoise und Zwick?“
„Sie wollten in der Küche herumschnüffeln. Sind aber noch nicht wieder aufgetaucht.
„Ihnen wird doch nichts zugestoßen sein! Ich könnte es nicht ertragen.“
Jane war verzweifelt.
„Da ist noch etwas. Sieh mal, was ich in der Hütte fand.“
„Das kann nicht sein.“ Jane nahm John das Objekt aus der Hand und verstand gar nichts mehr.
„Wir suchen die anderen und treffen uns im Wohnzimmer.“
„Da kommt Jonathan auf das Haus zu. Er muss dabei sein. Der Gärtner war es doch in der Regel, denn einen Chauffeur und einen Butler hast du ja nicht mehr.“
Das Wohnzimmer war mollig warm und die Lichter brannten noch im Baum, weil in der Aufregung niemand daran gedacht hatte, sie zu löschen.
John löschte schnell die Kerzen, bevor sie die grünen Spitzen erreichen konnten. Die anderen schauten in der Küche nach den Freunden. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie innehalten und staunen. Da saßen Bertha, Zwick und Francoise um einen kleinen Tisch herum, die Köpfe auf die Brust gesunken, wie es schien. Kein Laut war zu hören.
Ein blutiges Hackebeil lag zwischen ihnen auf dem Tisch, ein armes totes Huhn lag achtlos auf dem Fliesenboden und die blutige Schürze Berthas lag daneben.
Die drei blickten mit geröteten Gesichtern auf und gaben den Blick auf die Aufgabe frei, die sie sich gestellt hatten.
„Fertig!“ rief Francoise und blickte auf und in die erstaunten Gesichter der Freunde, sie sich in der Tür quetschten.
Zwick hielt triumphierend das Stück Papier in die Höhe.
„Ihr werdet staunen.“
„Das glaube ich auch!“ brummte die tiefe Stimme Augustus in den Raum. Erschrocken schauten die Freunde zu der großen Gestalt, die dreckig und von Spinnenweben verhangen aus der Dunkelheit hinter dem großen Herd trat. War er die ganze Zeit hier gewesen?
Ein kleiner erschrockener Aufschrei entfuhr den Freunden. Dann hörten sie hinter sich die zwei Schwestern aus dem Wohnzimmer herüberrufen:“ Jetzt werdet ihr etwas erleben.“
„Wir sind umzingelt.“ James versuchte an den Schwestern vorbei aus der Tür zu kommen, doch die anderen versuchten es auch und ein heilloses Durcheinander entstand.
Man rempelte und stieß sich und endlich waren alle im Wohnzimmer versammelt.
„Gibt es noch Grog?“
Alle schauten zu Jonathan herüber. Der Mann hatte Nerven.
„Später.“
„Jetzt legen wir mal alles auf den Tisch. Hier geht etwas vor und wir gehen nicht eher, als wir wissen, was das ist.“
John nahm die Sache persönlich.
„Jemand versucht Jane umzubringen.“
Leider war auf den Gesichtern der Schotten keine Überraschung zu erkennen. Steckten sie etwa alle unter einer Decke?“ Jane konnte ihren Schrecken kaum verbergen. Was würde geschehen?
„Also das dachte ich mir auch schon, als all die komischen Sachen passierten und da habe ich mal genauer aufgepasst.“ Bertha legte die Hände auf ihr Kleid. Jane hatte sie noch niemals ohne Schürze gesehen.
„Soll das heißen, sie haben den Grog nicht vergiftet? Aber das Gift war in der Küche.“
„Also wirklich, ich vergifte meine Herrschaft, wer hat sowas schon gehört.“
„Es gab da diesen Fall in Warwick…“ Zwick verstummte.
„Bertha war es nicht. Sie wusste nichts von dem losen Stein im Boden. Man muss erst einen kleinen Stein entfernen, um den Stein anheben zu können. Als Kinder haben wir kleine Briefe hier versteckt. Ich hatte lange nicht daran gedacht und auch an die anderen Geheimnisse dieses Hauses nicht.“
Augustus trat auf Jane zu, alle versuchten ihn aufzuhalten. Jane wich zurück. Erstaunt schaute Augustus in die Runde.
„Ich will ihr doch nichts tun.“
Er trat einen Schritt zurück, um Jane zu beruhigen.
„Bertha sprach mich auf die komischen Vorfälle an. Ich sollte mir die Sache mal ansehen, denn sie machte sich Sorgen um Cousine Jane. Du bist doch jetzt meine Cousine.“
Jane schluckte verlegen.
„Was war das eben mit dem Gärtner?“ James mischte sich in diese rührende Szene ein.
„Jonathan, der Name, Sir. Ich gab dem Herrn etwas, das ich gefunden habe. Dachte, das könnte ein Hinweis sein.“
Stolz geschwellte Brust schaute er in die Runde.
„Ein Hinweis?“
„Ja, ein Hinweis.“
„Was ist es?“
„Zuerst will ich wissen, was Anagretha und Roberta in James Zimmer zu suchen hatten.“ Jeanette wurde ungeduldig.
„Hinweise suchen.“
„Wieso habt ihr nicht mit mir gesprochen?“
„Weil mein Verdacht zu furchtbar ist und wenn ich mich irre, ihr hättet mich für verrückt gehalten.“
„Jetzt will ich sehen, was ihr alle gefunden habt.“
John wollte es jetzt endlich wissen.
Sie alle legten die Beweise auf den Tisch. Den kleinen, auf dem sonst die Sandwiches serviert wurden.
Es herrschte eine tiefe Stille, als sie die Dinge betrachteten, die sie zusammengetragen hatten.
Da lag das zusammen geklebte Stück Papier. Es handelte sich um einen Brief. Auf dem stand, dass die Leiche von James Butter gefunden worden war. Man sprach das große Bedauern aus und wartete auf Anweisungen, was mit den sterblichen Überresten geschehen sollte.
Jane konnte es nicht glauben. Dann war ihr Mann also wirklich tot. Ein kleiner Schmerz war da und eine Erleichterung, die ihr gleich ein schlechtes Gewissen machte. Sie hatte sich immer ein wenig vor ihm gefürchtet und nur war das endlich vorbei. Aber wieso war der Brief zerrissen gewesen.
„Wo habt ihr ihn gefunden?“
„Jonathan hatte die Briefschnipsel auf einem Abfallhaufen gefunden und gleich das Logo der Schifffahrtsgesellschaft erkannt, weil er alles über das Unglück mit dem Eisberg verschlungen hatte, denn schließlich hatte es den jungen Herren betroffen. Den Brief hatte er wie ein Puzzle zusammengelegt. Es hatte ihn bekümmert und gewundert, dass Jane so wenig zu trauern schien, dass sie diesen Brief gar achtlos wegwarf. Und dann kam auch der Leichnam nicht, und kein Begräbnis. Schließlich hatte er die Schnipsel in ein Kästchen getan und jetzt dem anderen Herren, dem Augustus gegeben, denn der wusste vielleicht, was zu tun war.
„Der Brief ist vom Juni. Also hatte man ihn gleich gefunden. Wer wollte, dass ich das nicht erfahre?“
„Schau, was wir gefunden haben.“ Roberta und Augusta zeigten auf einen Umschlag. Darin befand sich eine Quittung für einen Scheck an einen gewissen Alfred Smith über eine hohe Summe.
„Alfred Smith ist der Grundschullehrer eines kleinen Ortes zwei Autostunden von hier. Er verschwand um dieselbe Zeit herum, wie dein Mann seine Reise antrat.
Ich weiß das nur durch Zufall, weil ich eines meiner Dienstmädchen darüber klatschen hörte. Sie stammt aus demselben Dorf wie Alfred Smith, der ohne Familie dastand. Das ist doch eine seltsame Geschichte.“
„Ich verstehe gar nichts.“ Jane musste es zugeben. Sie begriff nicht, was das alles mit den Mordanschlägen auf sie zu tun hatte.
„Das wirst du gleich.“
John zeigte auf die letzten beiden Gegenstände. Das eine war eine Schiffspassage nach Nordamerika und zurück auf den Namen Alfred Smith.
Den letzten Gegenstand nahm Jane in die Hand.
„Wo hast du das gefunden?“
„Beides lag unter einer hohlen Fußbodenlatte in der Jagdhütte.
„Aber das Kann nicht sein. Das ist James Pfeife. Und er würde niemals irgendwo ohne sie hingehen. Er hatte sie an dem Tag dabei, als er seine Reise antrat, ich bin ganz sicher. Er hatte sie im Mundwinkel. Wie kann das sein?“
„Tja, wie kann das sein?“ John trat vor. „Ich sage euch, wie das sein kann. Er ist nicht tot.“
„Aber der Brief. „
„Alfred Smith ist tot.“ Er war es, der die Reise antrat. Denn dein Mann hatte ihm Geld und eine Schiffspassage angeboten, damit er unter seinem Namen nach Amerika reisen konnte.
Dein Mann versteckte sich derweil in der Hütte und wollte seinen perfiden Plan durchziehen. Er wollte dich ermorden, an dein Vermögen kommen und dann sein Leben genießen.
Er wollte es machen, wenn sein Alibi perfekt war und er auf der Liste der Passagiere der Titanic stand.
Dann wollte er das nächste Schiff nach Amerika nehmen und dort an Land viel Aufmerksamkeit erregen und zurückkehren als gebrochener Mann. Das Datum auf der Schiffspassage legt das nahe. Doch der Plan ging schief. Die Titanic sank. Das ganze Gebilde brach zusammen. Dann hatte er eine neue Idee, denn das fand ich außerdem:“ John legte den letzten Beweis für seine Theorie vor.
Ein neues Ticket. Eine hin- und Rückfahrt nach Amerika für Alfred Smith, der längst in irgendeinem Grab liegen würde, weil James es so verfügt hatte.
So konnte er von den Toten auferstehen, sich als verwirrten Mann präsentieren, der sein Gedächtnis verloren hatte und seine entledigte Frau betrauern.
Alle waren sprachlos.
„Aber wie sollte er das bewerkstelligt haben. Er konnte doch nicht einfach unbemerkt ein und ausgehen.
„Da komme ich ins Spiel!“ Augustus blies einen letzten Spinnenweb von der Schulter.
„Ich fand in der Küche einen Geheimgang. Den kannte selbst ich nicht. So konnte er den Grog vergiften.
Aufgeregt riefen alle durcheinander, das war doch zu unglaublich.
Jane fand, dass jetzt alles einen Sinn ergab. Ihr Mann hatte die ganze Zeit in der Hütte darauf gewartet, ihr den Garaus zu machen, war dabei aber genauso ein Stümper gewesen, wie im Rest seines Lebens. Er hatte gewusst, dass sie den Grog süß mochte und sie oft dafür ausgescholten. Sie solle bloß nicht fett werden hatte er zu ihr gesagt. Dieser Schuft. Aber wo war er? Er konnte ihr immer noch ein Leid antun oder unbemerkt fliehen.
Da hörten sie aus der Küche eine mächtige Explosion. Die Tür wurde aus der Angel gerissen, alle wie Spielfiguren durch die Luft geschleudert.
Eine Gestalt lief schreiend aus dem Rauch, dem Feuer und dem Dampf ins Wohnzimmer. Mit angesengten Haaren und rußigem Gesicht.
Alle schrien noch lauter, denn das konnte nur Knecht Ruprecht höchstpersönlich sein, oder der Leibhaftige.
Da sprang die Haustür auf und viele Schritte waren zu hören, die Tür zum Wohnzimmer ging auf, ein Mann im langen Mantel stand verdattert im Raum. Hinter ihm schauten Polizisten auf das Geschehen und staunten.
„Guten Abend meine Herrschaften, alle wohlauf? Niemand verletzt? Darf ich fragen, was hier vor sich geht? Ich wurde wegen einer Vergiftung gerufen, doch das ist eindeutig eine Explosion.
Jane begann als erstes zu kichern, Augustus platzte als nächster heraus. Dann lachten sie alle. Denn es war ja auch zu komisch. Die rußige Gestalt wir ein Derwish in ihrer Mitte, Bertha und Roberta standen die Haare zu Berge, Jeanette war in Angriffshaltung irgendeiner Kampfsportart verharrt, John hatte sich schützend vor Jane geworfen und einige Reste vom Festtagskuchen abbekommen während fünf Polizisten und ein Kommissar sich fragten, was für eine verrückte Party diese reichen Schnösel wieder veranstaltet hatten.
Zwick faste sich seltsamerweise als erstes: “Nehmen sie diesen Mann fest. Er hat versucht seine Ehefrau, die zwölfte Baroness auf Lochy Castle zu ermorden.“
„Ich verstehe nicht.“
Der Kommissar verstand es wirklich nicht. Wie hätte er auch. Doch dann klärte sich alles auf. Auch die Explosion. Denn die hatte der Lord Blödmann selber ausgelöst, als er versucht hatte, eine Bombe im Kuchen zu verstecken.
Er brachte wirklich nicht viel auf die Reihe. Er war mit dem Schrecken davon gekommen, doch Zeit seines Lebens musste er ohne Augenbrauen und Gesichtsbehaarung auskommen.
Sein Leben fristete er denn auch in einem schaurigen Gefängnis im Dartmoor.
Die anderen feierten ein herrliches Weihnachtsfest mit kaltem Braten aus der Speisekammer, Eierpunsch und dem Hühnchen, dem die Explosion den nötigen Schliff gegeben hatte.
Es war für alle das schönste Fest.
Jane entschuldigte sich bei ihren schottischen Verwandten und bei den Dienstboten, die immer nur ihr Wohlergehen im Auge gehabt hatten, aber den schrecklichen Verdacht, ihr eigener Verwandter oder Brotherr könnte sich so einen perfiden Plan ausdenken nicht vor ihr zu erwähnen gewagt hatten.
So hatten sie hinter ihrem Rücken agiert. Wie sich rausstellte, wollte nur eine entfernte Tante und ein angeheirateter Onkel Anspruch auf das Schloss erheben. Niemand wollte sich mit diesem Kasten belasten zumal niemand genug Geld hatte, um das zwar lieb gewonnene, aber alles verschlingende Gemäuer angemessen zu bewirtschaften.
Nach eingehenden Gesprächen mit ihren Verwandten traf Jane mit ihnen eine Regelung, die allen zugutekam.
Sie schenkte das Schloss dem National Trust. Dieser wunderbaren Vereinigung, die alte Schlösser und Burgen für die Allgemeinheit erhielt und zugänglich machte.
Sie würden sich um das Haus und alles was dazugehörte kümmern.
Ein lebenslanges Wohnrecht in einem kleinen Seitenflügel für alle Familienmitglieder würde die Verbundenheit zu dem Haus und seiner Geschichte für die Familie bewahren. Jeder konnte dort einen Teil des Jahres verbringen und zu dem großen Weihnachtsfest kommen, dass Jane jedes Jahr dort veranstalten wollte. Alle Freunde waren eingeladen. Alte und neue.
Leben aber wollte sie mit John in London, in seinem gemütlichen Stadthaus. Ihr Vermögen würde ihrem Sohn zukommen, da sie es jetzt nicht mehr in Steine und neue Dächer investieren musste.
Bertha kümmerte sich fortan um James, der bald seine hagere Gestalt verlor, was Jeanette aber gar nicht schlimm fand.
Jonathan war nicht zu verpflanzen und wurde vom National Trust engagiert, damit er sich weiter so liebevoll um den Garten kümmern und eine reichliche Anzahl von Helfern überwachen konnte, die ihm zur Seite standen. Das gefiel ihm gut. Nur an Weihnachten trank er mit Jane und Bertha und den anderen einen heißen Grog, ohne Angst, er könnte vergiftet sein. Ansonsten blieb er der bescheidene Jonathan.
Und so gingen die Jahre ins Land und der einzige, der sich Weihnachten vor Wut die Zähne ausknirschte, war Lord Dümmlich in seiner kalten Zelle, denn er sah die Lichter im Moor und hielt sie für Weihnachtskerzen, dabei waren es doch Irrlichter, die aber auch so gar nichts mit dem schönen, Geborgenheit schenkenden Christfeste zu tun hatten. Und immer war ihm kalt dabei, als wäre er an einem Eisberg vorbei gestreift.
Die anderen aber sangen fröhliche Lieder in ihrer warmen Stube. Unter dem reich geschmückten Baum und dachten an nichts, als an das erste gemeinsame Weihnachtsfest, als es kalten Braten, vergifteten Grog und ein explodiertes Huhn zum Festmahl gab.
Ende
Weihnachten mit Mumie
Eine kleine Weihnachtsgeschichte von Kerstin Surra
22.12.2018
Als die Herrin des Hauses, Mo Carmikel, die große Freitreppe hinunter stieg, war der Tumult, der sich um den großen Weihnachtsbaum entsponnen hatte schon nervtötend genug. Zu allem Überfluss klingelte es auch noch an der Vordertür. Niemand machte Anstalten, die schwere, antike Tür zu öffnen, die so alt war, dass Wilhelm der Eroberer sie selber eingebaut hatte, wie der Herr des Hauses, Theodor Carmikel, oder kurz Pops, oft betonte.
Frizzi kümmerte sich nicht weiter um die Türklingel, sondern rannte auf ihre Mutter zu: “Phillip will seine Spielzeugautos in den Baum hängen.“
Sie blickte zur drei Meter hohen Tanne hinüber, an der zwei Leitern standen. Auf der einen balancierte Phillip und hängte silberfarbene Autos zwischen die teuren Glaskugeln aus Muranoglas und das echt silberne Lametta.
„Das geht auf keinen Fall!“ Mo erregte sich ein wenig, gerade genug und nicht zu viel. Sie wollte sich nicht derangieren, denn schließlich trug sie bereits ihre goldfarbene Abendgarderobe, die fließend und schillernd an ihr herabfloss, als wäre sie aus Perlmutt gewebt.
Das lange Haar kunstvoll zu einer mondänen Divenfrisur frisiert, wie es gerade Mode war. Rita Hayworth machte es vor.
„Phillip, ruinier nicht den Adel dieses Baumes. Nimm deine Blechautos runter.“
„Aber Maman,“ er sprach es Französisch wie sein Kindemädchen aus, „das sind Porsches!“
„Oh!“ Maman beherrschte diesen einzigartigen Ton perfekt. Er konnte so vieles ausdrücken. Und hier war es wohl Zustimmung zu seinem Tun.“ Na dann!“
„Aber Mutter, er soll seine Autos nicht neben meine ägyptischen Artefakte hängen.“
„Fizzi, nimm die alten Sachen aus dem Baum.“
„Sie stammen aus der dritten Dynastie, das ist wertvolle Kunst.“
„Frizzi, wir hängen uns nichts in den Baum, was andere im Wüstensand vergraben haben, weil sie es nicht mehr wollten. Ich werde ein Wörtchen mit Onkel Will und Tante Kate sprechen müssen. Letztes Jahr schenkten sie uns eine Mumie, die wir nicht einmal auspacken durften. Was soll das Ganze dann, wo ist der Spaß?“
Fizzi maulte, doch Mutter hatte schon das Interesse verloren.
„Wo ist denn dieser Butler? Muss ich etwa selber die Tür öffnen?“
Das hatte sie selbstverständlich nur so daher gesagt, denn das würde im Leben nicht passieren.
Phillip hängte weiter seine Porsche in den Baum. Sein Samtanzug glänzte am schönsten, wo der Klebstoff, mit dem er die Nummernschilder an die Autos geklebt hatte, seine Spuren hinterlassen hatte.
Gut, dass sie ihre Kleidung nur einmal trugen, und dann verbrannten. So merkte es Mutter vielleicht gar nicht. Sie achtete nicht allzu sehr auf Menschen, die ihr nur bis zum Bauch reichten oder solche, die noch kein Cocktailglas halten durften.
Das Leben in der feinen Gesellschaft ließ einem keine Zeit für Sentimentalitäten.
Erneut ertönte die Klingel, enervierend, die Musik von Big Ben ertönte.
„James!“
Mutters Stimme nahm einen gefährlichen, silberfarbenen Klang an. Das machte James endlich Beine. Naja, für seine Verhältnisse.
James war ein Butler, der sich nicht gerne was sagen ließ und sowieso niemals machte, was er sollte. Butler eben. Das war schon eine feinere Art von Hausangestellter als ein gewöhnliches Küchenmädchen eines war, wie er fand.
Langsam und würdevoll durchquerte er die riesige Eingangshalle, ließ den reichgeschmückten Baum mit den Kindern darin, die Hausherrin, die ebenso schillerte wie der Baum und die große Freitreppe, auf der gerade das junge Fräulein Anna herunter gesprungen kam, links liegen.
Da schrie Mutter:“ Schneller!“
Das brachte James so in Fahrt, dass er seine Schritte abrupt beschleunigte. Erschrocken schlitterte er über den frisch gewienerten, glatten Marmorboden bis zur Haustür, die ihn bremste. Rums. Die Nase von Wilhelm dem Eroberer nahm mal wieder Schaden, als James sich an ihr festhielt, um nicht zu stürzen.
Er öffnete verzagt. Frizzi sprang von der Leiter und rief: “Die Familie ist da! Hurrah!“
Der Butler sagte weniger enthusiastisch und so leise, dass nur er es verstand:“ Die Familie ist da. Hurrah!“
Mutter rief:“ Theobald, die Familie ist da.“
Und meinte damit Tante Katharina, Onkel William und die quirligen Kinder samt Ägyptischen Begleiter Kerim, den sie von einer ihrer Expeditionen mitgebracht hatten, wie andere eine Replik vom Eifelturm im Koffer heim brachten oder eine dieser Schneekugeln, die man umdrehen und schütteln musste, damit eine venezianische Gondel im Schnee trudeln konnte. Mutter war immer ein wenig über ihren Bruder samt Anhang empört. Aber was sollte sie machen. Die meiste Zeit des Jahres verbrachten sie sowieso unter der sengenden Sonne irgendeines Ausgrabungscamps. Weihnachten war eben Weihnachten. Da musste man das wohl ertragen. Sie setzte ein Lächeln auf, das sie frisch aus der Kühlkammer geholt hatte, die ihr Herz war.
Theobald, ihr Gatte, schritt die Treppe hinunter. Im Twill- Anzug, den winterlichen Temperaturen auf dem Land wohl angepasst, Pfeife in den Mundwinkeln, Einstecktuch in der Brusttasche, betrachtete seinen Schwager, der in einem leichten, weißen Sommeranzug erschienen war, der in Ägypten bestimmt seine Dienste getan hatte, doch hier etwas extravagant erschien, und grinste schief. Welche Freude!
Katharinas und Williams Kinder waren frei nach Rousseaus „Èmile“ erzogen, also eigentlich gar nicht, aber gänzlich frei und wild und laut. Ganz anders als die braven Carmikel- Kinder, die selbst beim Streiten die Form wahrten.
Das lag nicht zuletzt an Camille, dem Kindermädchen, das tadellos und mit dezentem Pariser Schick Form in diese Kinderschar gebracht hatte.
Sie stolzierte jetzt in die Halle wie Gräfin von Dotz. Scharwenzelte um James herum und machte ihm schöne Augen. James glotzte sie seinerseits mit unverhohlener Bewunderung an.
Dann richtete sie Frizzis feinen Rock und die Rüschenbluse.
Leckte sich in die Hand und fuhr damit Phillip durch Haar, der das gar nicht en vogue fand.
Kerim, der koptische Begleiter, mein Gott, es hätte schlimmer kommen können, des unfeinen Zweiges der Familie Carmikel, sah sich den Weihnachtsbaum genauer an und grinste, als er die Anch- Zeichen und kleinen Jade- Anubisse sah. Nicht, dass ihm im mindesten gefallen hätte, was mit den Schätzen seiner Vorfahren für Schindluder betrieben wurde, schließlich war der neueste Partyspaß in feinen Kreisen, das Zerstoßen und Verspeisen von Mumien oder das auspacken ebensolcher, zum Zweck der Schatzfindung von Beigaben, die den Toten als Dreingabe zum Jenseits beigelegt worden waren.
Kerim wusste genau, dass diese antike Weihnachtsbaumdekoration der kleinen Miss Frizzi zu verdanken war. Aber ihr konnte er verzeihen, denn sie zeigte nur, wie kostbar ihr die kleinen Schätze waren, die sie von ihrer Tante zugesteckt bekam, wenn ihre Mutter nicht hinschaute. Kerim verehrte die kleine Nichte seiner Arbeitgeberin von ganzem Herzen. Denn sie liebte wie er das Land der Pharaonen und verstand mehr von den Altertümern, die durch ihre Hände gegangen waren, als so mancher Grabräuber, der sich heutzutage wissenschaftlicher Ausgräber schimpfte.
Frizzi lief auf Kerim zu und umarmte ihn, bevor ihre Mutter es verhindern konnte.
Der zog eine kleine Schatulle aus seinem Gewand und steckte es Frizzi unbemerkt zu.
Was wohl darinnen war? Frizzi konnte es kaum aushalten, bis sie es heimlich öffnen würde. Ein Lächeln als Dank war Kerim genug.
Anna, die älteste Tochter der Familie Carmikel, mit einem modernen Bob geschmückt, shocking, begrüßte Kerim mit ihrem strahlendsten Lächeln. Verlegen machte er einen Diener und sah sehr komisch dabei aus, weil ihm sein langes Gewand im Weg war.
Sie tanzte jetzt weiter auf die anderen Gäste zu und umarmte einen nach dem anderen.
Nur die Kleinsten schob sie etwas von sich weg, weil sie Schokoladenhände hatten und sie das Neueste vom Neuesten trug. Und es kam aus Paris.
Lennard, Annabella und Baby Christopher, der gar kein Baby mehr war, aber diesen Titel wohl niemals mehr loswerden würde, hielten sich nicht lange mit ihr auf und umringten James, der immer ein paar Bonbons für sie in der Tasche hatte.
Er konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Die Kleinen rührten sein versnobtes Herz.
Vater Theodor paffte an seiner Pfeife, eine Hand lässig an der selbigen, eine Hand auf der Büste Julius Cäsar, die in der Eingangshalle thronte, warum auch immer und betrachtete den Aufruhr, der jedes Jahr wieder, alles durcheinander wirbelte.
Da ertönte der Gong zum Essen und er griff erleichtert die Hand seiner Gattin.
Camille drängelte sich jedoch vor um die alte Schreckschraube zum Festmahl zu geleiten, ging dreist als Erste in das große Esszimmer mit der reichgedeckten Tafel. Silber funkelte, Kerzen strahlten, feinstes China aus China, damastene Tischdecken, ein kleinerer, noch kostbarer geschmückter Baum. Weihnachten.
Alle nahmen an der Tafel Platz und das Schmausen begann…
„Frizzi, was machst du?“ Phillip schaute seiner großen Schwester über die Schulter.
„Schreibst du uns wieder eine deiner Kurzgeschichten?“
Das war längst eine schöne Tradition geworden. Seit Frizzi endlich gelernt hatte, wie man aus Buchstaben Worte und wohlgesetzte Sätze bildete, war das Schreiben von kleinen Geschichten ihre liebste Beschäftigung geworden, wenn sie nicht gerade viel zu komplizierte Bücher über das alte Ägypten las.
Sie war jetzt zehn Jahre alt und damit schon ein alter Hasse im Schriftstellergeschäft. Ihre Geschichten verkauften sich gut im Familienkreis, wo es stets ein, zwei Pennys oder ein Stück Marzipan für eine gut geschrieben Shortstory gab. Selbstbewusst legte sie sich auf das Geschriebene: Heute Abend. Da lese ich es vor. Es handelt von uns, wie wir wohl Weihnachten feiern würden, wenn wir auf Schloss Darkmoore leben würden. “ Sie kicherte. So eine schön alberne Geschichte. Es klingelte Sturm.
„Geht doch mal einer an die Haustür“, rief Mutti aus der Küche, den Klos Teig in den Händen. Ich kann jetzt nicht. Nicht, dass ich mir noch mein Chanel- Kleid mit Klösewasser ruiniere. Sie lachte ihr fröhliches Lachen und strich sich die Hände an ihrem alten Kittelkleid sauber, dass sie immer in der Küche trug.“
„Frau, du siehst auch ohne Chanel bezaubernd aus. Wie Rita Hayworth.“
Muttis Haare, voller Mehl, standen irgendwie eher wild zwischen dem Haargummi hervor, der sie hielt, aber in Papas Augen war Mutti die schönste Frau der Welt.
Wieder lachte Mutti Mo. Vater Theo gab ihr einen Kuss und sagte: “Ich hab grad was Wichtiges zu tun. James, geh du zur Tür.“
„Ich bin doch nicht euer Butler!“
Vater drückte Mutti, die schmierte ihm Klosmasse auf die Nase.
„Mach deinem Namen jetzt mal flink alle Ehre, schließlich haben wir dich nicht ohne Grund James genannt.“
Mutti kicherte. Alle wussten, dass Vater den Namen ausgesucht hatte, weil Henry James Muttis Lieblingsschriftsteller war.
Die Haustür quietschte in den Angeln, als die Türklingel erneut ertönte.
„Verdammt, die Haustür ist so alt, dass Wilhelm der Eroberer sie anno 1066, mitgebracht haben muss, als er an die britische Küste stolperte. Wir müssen unbedingt auf eine neue Tür sparen, sonst fällt sie irgendwann von selber aus den Angeln.“ Theo lachte.
Bei der Nachbarin schlug jetzt die Standuhr. Big Ben. Jede Stunde. Das nervte inzwischen das ganze Haus. Doch keiner sagte was, denn alle mochten die alte Frau Kugler.
Gleich würden sie ihr ein paar Plätzchen rüber bringen und frohe Weihnachten wünschen. Papa überlegte sich inzwischen eine neue Todesart für die feine Uhr mit den goldenen Zahnrädern. Er könnte aus Versehen dagegen stoßen. Aber das dachte er natürlich nur, denn er war ein zivilisierter Mensch.
James schlurfte endlich zur Tür. Er machte nie was er sollte und ließ sich schon gar nichts befehlen.
Typisch Teenager eben.
„Mama, Willi und Katy und die Kids sind da.“ Das waren James letzte Worte, bevor die kleine Schar Kinder ihn umrannte, zu Boden brachte und ihn herzlich umarmte.
James wurde gleich weich und kitzelte die Bäuche der vor schierer Freude schreienden und lachenden Kinderchen.
„Doch nicht im Hausflur, die Nachbarn!“
Mutter machte sich immer Sorgen, dass die Nachbarn von den Kindern gestört werden könnten, dabei waren ihre eigenen recht gut gelungen.
Doch die Kinder ihres Bruders waren echte Wildfänge. Sie stieg über das Knäuel am Boden hinweg und drückte erst Will und dann Kate mit ihren Klösehänden. Die nahmen es lachend hin.
Kommt rein, kommt rein. Die Tafel ist gedeckt.
Ein „Oh!“ und „Ah!“, belohnte sie für die Mühe, die sie sich immer gab, die kleine Sitzecke in der Küche für alle so herzurichten, dass auch eine Queen Elizabeth sich darin wohl gefühlt hätte. Die erste, wohlgemerkt.
Es war alles von elisabethanischem Überschwang erfüllt und Kerzenschein und Lichterglanz nahm der alten, abgeschabten Kücheneinrichtung jeden Rest von Schäbigkeit und füllte den Raum mit Weihnachtsduft.
„Was hast du uns mitgebracht?“
Will arbeitete bei einem Einzelhändler, der Nippes aus der ganzen Welt importierte.“
„Mumien und Gummihühner?“
Lachte Vater und dachte an letzte Weihnachten, an denen es Gummihühner und Gruselmumien geregnete hatte. Halloween war ein Fest gewesen.
Es klingelte wieder. „Oh, das ist bestimmt Josef Kerim.“
„Schön, dass er es schafft.“
Kerim war Wills Kollege, der Weihnachten nicht nach Hause fahren konnte, weil er sich gestern einen Arm gebrochen hatte.
Kurzentschlossen hatten die Carmikels ihn zum Weihnachtsessen eingeladen, weil es ihnen doch zu traurig vorgekommen war, dass jemand so ganz alleine sein sollte, an Weihnachten.
Eigentlich feierte jedes Jahr irgendein Freund oder Freundin oder Freund von einem Freund bei ihnen, so dass Mutti und Vati immer ein paar Portionen Klöse, Rotkohl und Gans mehr kochten. Man konnte ja nie wissen.
Heute war es eng in der kleinen Küche, aber gemütlich, als sich alle endlich niedergelassen hatten. James hatte sich schnell wieder neben seine Gastschwester, die französische Austauschschülerin Camille setzen wollen. Meistens gelang ihm das. Doch diesmal kam ihm Philipp zuvor. Schwesterlich war der Blick, den Camille James zuwarf nicht gerade. Die beiden mochten sich ganz gern. Philipp streckte Frizzi die Zunge raus. Die warf ihm einen Augen- weg- roll Blick zu. Beide lachten albern. Camille versuchte, die Kinder zu beruhigen.
Sie befeuchtete ihre Finger und wollte Phillip damit eine widerspenstige Strähne aus der Stirn wischen, doch der duckte sich und stattdessen traf es James. Den das schlicht entzückte.
Vater Theo warf einen liebevollen Blick auf die quirlige Runde und bat alle tüchtig rein zu hauen.
Als Klein und Groß mit vollgestopften Mündern redeten, lachten, und das gute Essen lobten, nutzte Kerim die Gunst der Stunde, um Frizzi ein Geschenk zuzustecken. Das war nur für sie alleine bestimmt. Denn niemand liebte Kerims Geschichten aus seiner Heimat so wie Frizzi. Sie wollte immer alles wissen. Frizzi bekam ganz rote Wangen vor Freude.
Endlich gingen alle in die Wohnstube und tranken Glühwein, aßen Plätzchen und sangen um die Wette Weihnachtslieder.
Als Frizzi später unter dem Tannenbaum saß, schön dicht, unter den Zweigen verborgen, und alle mit dem Öffnen der kleinen Pakete beschäftigt waren, die das Christkind herbei gezaubert hatte, befühlte sie das glitzernde Geschenkpapier. Was wohl darinnen war. …
…Als Miss Frizzi endlich ungestört unter dem Tannenbaum saß und die Erwachsenen Punsch tranken und sich höflicher Konversation hingaben, öffnete sie Kerims Päckchen. Es war in Goldfolie gewickelt, dann in Packpapier und schließlich in graues Leinen.
Endlich hielt sie das kostbare Ding in Händen und betrachtete es froh. Jeder andere in dieser Familie hätte den Kopf geschüttelt über dieses seltsame Geschenk, und kaum verstanden, wozu es diente. Doch für Frizzi war es ein Schatz ohne gleichen. Es war ein kleiner ausgehöhlter Stein, in dem man Farbpigmente zerstoßen konnte, eine Schreibfeder, Farbe und ein altes Stück Papyrus…
…Frizzi wusste schon ganz genau, welche Geschichte sie darauf schreiben würde. Kerim hatte ihr erzählt, wie bedroht die Kopten in Ägypten wegen ihres Glaubens sind. Aber alle seine muslimischen Freunde und Nachbarn waren letztes Jahr mit zur Weihnachtsandacht gekommen, um Einigkeit und Zusammenhalt zu demonstrieren. Zum Glück war nichts Schlimmes passiert, wie in anderen Jahren. Für Kerim hätte es kein schöneres Geschenk geben können. Und nun hatte er Frizzi das schönste Geschenk gemacht, das ihre beiden größten Freuden verband. Das Schreiben und das alte Ägypten. Sie lächelte Kerim zu, doch der tanzte gerade mit Frizzis Schwester Anna um den kleinen Wohnzimmertisch herum, was sehr komisch aussah, weil sein rechter Arm in dem schweren Gips dabei seltsam abgewinkelt abstand, Doch das schien ihn jetzt nicht zu stören. Alle lachten und sangen „Sleigh ride.“ Den neuesten weihnachtlichen Gassenhauer.
Dann riefen alle nach Frizzis Geschichte. Frizzi freute sich, als sie die Familie froh versammelt sah. Alle würden lachen, wenn sie sich in Frizzis Geschichte wieder erkennen würden und doch ganz anders wären. Besonders die Plastik- Mumie. Das wusste Frizzi genau. Die stand jetzt schön brav in der Wohnzimmerecke, ein Gummihuhn in der Hand und grinste leise vor sich hin. Froh darüber, in der guten Stube der Familie Carmikel zu sein, und nicht in Darkmoore, dem Herrensitz der Carmikels, wie sie hätten sein können, wenn die Umstände andere gewesen wären. Und damit war sie heute Abend nicht allein.
Frizzi begann: „Weihnachten mit Mumie.“
Ende
Schnee auf Tannenspitzen
Schnee auf Tannenspitzen?
Gibt es heuer eher nicht zu sehen.
Bleibt uns nur Erinnerung.
Die von unseren Müttern, wie sie auf Mühlbächen einbrechen.
Nicht tief, nur reichlich nass und lachend.
Von Schulwegen, die durch tiefen Schnee in ferne Dörfer führen.
Von Wintern, da die Scheiben froren,
und Schneemänner gute Freunde wurden,
weil sie die Zeit dazu hatten,
bevor sie zum Nordpol weiter mussten.
Heute gibt es sie nur noch auf der Durchreise.
Eine Nacht, mehr nicht.
Oder die als Kind im Schneegestöber, mit den Augen,
so herrlich glitzernd,
wie wir sie uns zu Weihnachten wünschen.
Erinnerungen, an eigene weiße Überraschungen.
Aus der Christmette tretend mit Puderzuckerschnee in die dunkle
Weihnacht entlassen, die bald von Lichterglanz erhellt,
noch den kalten Kuss auf den Wangen, der Stirn, dem Mund,
Wunschzettelerfüllende Schneeflockenküsse.
Erinnerung.
Von kalter Luft, die zu Rauchwolken wird,
wenn wir unseren warmen Atem in sie auspusten.
Rauch von ausgeblasenen Kerzen, Kirchenglocken, Schlittenspuren,
nasse Handschuhe, kalte Finger, noch ein bisschen, trotzdem,
schon vergessen, rote Fingerspitzen, Zucker der von Tannen rieselt,
Schnee im Kragen, heiliger Schreck.
Heiße Schokolade, kribbelnde Nase,
Schneeengel, Schneeballschlacht, Schneekristalle auf der Fensterscheibe.
Jedes ein beschwingter Tänzer im anderen Kleid.
Schlittschuh lernte ich auf zugefrorenen Rheinwiesen zu laufen,
Großväter erinnern an zugefrorene Flussläufe,
Rhein unter weißer Winterdecke, bis er bricht.
Hungerwinter gibt es hier und heute nicht.
Jetzt gibt es nur nieselige Warmluftwetterfrontweihnacht.
Aber innen drin, ist weiße Weihnacht.
Und unterm Baum, im Lichterschein, da scheint es mir, als glitzerte,
ganz oben auf den Tannenspitzen
weißer Glanz und Eiskristall.
Kerstin Surra
23.12.2017
Hinter dem eisigen Land
von Kerstin Surra aus "Auf den Stufen des Mondes"
Da fiel Ole etwas ein: “Viola, damals, als wir uns wieder trafen und Du uns von Deiner Rettung durch die Bewohner der nördlichen Länder berichtet hast, versprachst du uns, einige der wundersamen Geschichten und Sagen zu erzählen, die Du dort gehört hast.
Jetzt wäre doch ein schöner Zeitpunkt. Draußen regnet es so herrlich und hier drinnen ist es gemütlich. Da können wir uns doch vorstellen, wir säßen in einem Zelt aus Seehundfell und wärmten unsere Hände über Lebertran.
„Ja, holt alle Kerzen her und stellt sie in die Mitte. Das gibt einen schönen Schimmer über meine Geschichte.“
„Nimm noch meinen Pelz, Viola, leg ihn über die Schulter, wie es die Menschen tun, von denen du uns erzählen willst.“
„Danke, mein Prinz.
Nicht wahr, Ihr wißt, wie der Wind um die Hütten wehen kann. Den Hütten aus Eis und Schnee. Wie er von den nördlichsten Breiten herbei eilt, um Dünen in die weiße Haut des Landes zu zeichnen. Wie er die weichen Flocken vorwärts treibt und sie zu messerscharfen Dolchen macht. Ihr kennt seine Kälte und seine Leidenschaft.
Nicht wahr, ihr kennt den Wind des Nordens, dessen Melodie eine einsame ist. Ihr habt sein Lied gehört, wie ich. Ein Lied, das von den Weiten spricht, die wir nicht erreichen können. Die uns doch locken mit den Düften von nie betretenem Eis. Wie es knirschen muß und knacken.
Die uns doch rufen, mit den Geheimnissen, die tief verborgen unter Schichten von Schnee und Schnee. Was mögen sie verbergen? Ein Land von sprudelnden Quellen und einsamen Wäldern, oder doch nur nackter Stein und noch größere Traurigkeit? Es ist das Land der Mitte, dort kommt der Wind des Nordens her.
Er kommt den weiten Weg und verweht die Spur des einsamen Wanderers. Er kommt den weiten Weg und verweht die Spur der alten Pfade. Er kommt den weiten Weg- und bleibt.
Ja, es war der Nordwind, der kam und blieb.
Er traf Ewoltle, den Jäger, als er ein Loch in das Eis schlug, um einen Fisch zu fangen. Er fuhr in ihn ein und kehrte mit ihm in sein Dorf zurück. Fortan trieb er Ewoltle um.
Ewoltle war nicht mehr er selber. Das merkten die anderen sehr schnell. Er wollte nicht mehr auf die Jagd gehen, nicht mehr Löcher in das Eis hacken. Ewoltle wollte seine Hütte nicht reparieren, nicht mehr Fische zum trocknen aufhängen. Auch die Frau, die er umworben hatte, wollte er nicht mehr sehen.
Ewoltle hatte nur noch einen Gedanken. Er packte seine Sachen zusammen, spannte seine Hunde vor den Schlitten und lud die Dinge, die er zum Überleben benötigte, auf diesen Schlitten. Die anderen umringten ihn und fragten ihn aus, was er denn vorhabe.
„Ich muß das Land der Mitte finden.“ antwortete Ewoltle auf die aufgeregten Fragen.
Anuk, die Frau die ihn erhört hatte, sagte: “Was willst du dort? Dort wartet nur der Tod auf Dich. Das wäre schade, denn Du bist der schönste Mann des Dorfes.“ Sie lächelte ihn an und wirklich, sein rundes, fröhliches Gesicht machte ihn zum schönsten Mann des Dorfes.
„Ich muß das Land der Mitte finden.“ antwortete Ewoltle wieder.
Suruk, der Älteste des Dorfes sagte: “Was willst Du dort? Dort wartet nur der Tod auf Dich. Das wäre schade, denn Du bist der beste Jäger des Dorfes.“ Er lächelte ihn an und wirklich, er war der beste Jäger des Dorfes.
„Ich muß das Land der Mitte finden.“ antwortete Ewoltle erneut.
Anusch, der beste Freund Ewoltles sagte: “Was willst du dort? Dort wartet nur der Tod auf Dich. Das wäre schade, denn Du bist mein bester Freund in diesem Dorf.“ Er lächelte ihn an und wirklich, er war der beste Freund, den er in diesem Dorf besaß.
All das war wahr und Ewoltles wußte das, aber wieder blies der Nordwind in ihm und trieb ihn fort.
Da sprach Sansche, die weise Frau des Dorfes. “Laßt ihn ziehen. Der Nordwind bläst in ihm. Er nimmt ihn mit sich fort, weil er nicht länger alleine sein will. Wenn der Wind in einem Menschen lebt, dann ist es so und niemand kann es ändern. Verabschiedet Euch von Ewoltle und vergeßt ihn, denn er sucht das Land der Mitte und dort wartet der Tod.“
Da lächelten die anderen nicht mehr und verabschiedeten sich mit Trauer im Herzen von Ewoltle, als wäre er bereits gestorben. Er stieg auf seinen Schlitten und jagte davon. Schnell wie der Wind, der ihn trieb.
Der Wind bereitete Ewoltle den Weg über das rauhe Land. Dann, als sie das offene Meer erreichten, trieb er ihm Eisschollen zu, auf denen er sicher und schnell seine Reise fortsetzen konnte, ohne es zu bemerken. Und während der ganzen Zeit, war Ewoltle nur von dem Verlangen getrieben, das Land der Mitte zu erreichen.
Endlich, nach vielen Wochen, erreichten sie das Land der Mitte. Ewoltle staunte sehr, als er dieses wunderschöne Land sah. Ein kleines Land, aber fruchtbar und liebreizend.
„Warum verweilst Du nicht in diesem schönen Tal? Warum reist Du über das kalte, öde Land des Winters?“ fragte Ewoltle seinen Begleiter.
„Einer muß es tun. Ich muß den Schnee vorwärts treiben und das Eis zu Dünen schlagen. Ich muß das Land des Winters mit meinem Atem überziehen. Muß das Lied der Traurigkeit singen. Wer sollte es sonst tun?“
„Und das Land in der Mitte?“
„Hierher darf ich zurückkehren, wenn ich meine Arbeit erledigt habe. Aber es ist so einsam.“
„Wie gerne würde ich mit Dir tauschen, nur, um hier meine Zeit verbringen zu dürfen. Es ist das Land von dem ich träumte, seit ich ein Kind war.“
„Deshalb fuhr ich in Dich hinein. Erzähl mir von der hübschen Frau mit dem platten Näschen und den Mandelaugen, davon, wie sie leise kichert, wenn Du sie am Ohr kitzelst. Erzähl mir von der Jagd, wenn Du das Eis durchbrichst, den Fährten folgst. Erzähl mir von dem jungen, der Dein Freund ist. Was redet Ihr?“
„Gerne will ich Dir all das erzählen, doch sag mir erst, warum.“
„Wir könnten doch tauschen. Du ziehst statt meiner über das Land des Winters und darfst dafür das Land der Mitte besitzen. Ich bekomme Deine Gestalt und kehre als Mann in Dein Dorf zurück. Als Ewoltle!“
Ewoltle kehrte in sein Dorf zurück. Er tauchte eines Tages hinter einer Schneedüne auf und verblüffte die Menschen seines Dorfes mit seiner Rückkehr. Die lange Reise hatte ihn verändert. Er war nun ganz bei ihnen. Nicht mehr abwesend und verträumt. Er redete niemals von dem Land der Mitte und genoß das Leben in ihrer Mitte. Ja, er hatte seine Mitte unter ihnen gefunden. Er freute sich, wenn Anuk kicherte, wenn er sie kitzelte. Er liebte es, den scharfen Wind in seinem Gesicht zu spüren, wenn er auf der Jagd war. Er erfreute sich der Gespräche mit seinem Freund Anusch. Er war zum ersten mal zufrieden.
Nur Sansche, die weise, alte Frau starrte ihn bisweilen fragend an. „Bist Du Ewoltle oder wer bist Du?“ Niemand beantwortete ihr diese Frage. Ewoltle lächelte nur, wenn er sie sah.
Nun, was glaubt ihr? Hat Ewoltle das Angebot des Windes angenommen und sein Leben einem anderen geschenkt, der mehr damit anzufangen wußte, oder war er sich plötzlich der Kostbarkeiten bewußt geworden, die er besessen hatte? Die Freundschaft, die Liebe, das Ansehen. Wer weiß es? Nur der Wind könnte es uns sagen. Der Wind des Nordens, der vor unserer Haustür umher streicht und einen Namen flüstert. Ich kann ihn nicht verstehen. Wenn ihr leise seid, könnt ihr es vielleicht ahnen. Doch gebt acht, daß er nicht den Euren ruft, denn dann seid ihr verloren, denn eurer Herz kennt keine Ruhe mehr, bis Ihr das Land der Mitte geschaut und das süße Wasser seiner Quellen gekostet habt.“
Und während links und rechts von ihr, die eisigen Tropfen von der Decke troffen und sie zu ertränken suchten, da fühlte sie wieder die Freude, die erfüllt hatte, als sie in einem großen Meer von Kerzen geschwommen war.
Getragen von vorsichtigen Händen, die sie vor Wind und Wetter geschützt hatten. Sie vorsichtig umschlossen hatten. Auch die glänzenden Augen der Kinder und ihre vom Kerzenschein erfüllten Gesichter, sah sie vor sich und sie labte sich an diesen Träumen von einer schönen Vergangenheit.
Hier saß sie nun und wußte nicht einmal mehr, wie es gekommen war, daß sie hier alleine gegen das Verlöschen kämpfte. Was war sie doch für eine tapfere, kleine Flamme. Doch ach, das Herz wurde ihr doch schwer, wenn sie an die Dunkelheit rings herum dachte. Wie tief würde sie erst sein, wenn sie erstarb.
Doch was war das? Sie lauschte, hörte einen fernen Gesang. Bald kam er näher und ihr kleines rotes Herz machte einen winzigen Sprung und vermischte sich mit ihrer gelben Aura.
Da endlich sah sie die Kinder, in einer langen Prozession. Feierlich trugen sie die Kerzen in ihren kleinen, warmen Händen. Obenauf tanzten keck und munter die anderen Flammen. Da waren sie endlich bei ihr. Das kleinste der Kinder nahmen sie mit einer schönen, feinen Kerze auf. So schnell hüpfte sie auf den Docht, daß sie beinah verloschen wäre. Doch, welch Glück, das kleine Mädchen legte schützend die Hände über sie und bedeckte sie mit ihrem lieben Gesicht.
Dann beruhigte sich das Flämmchen wieder, wurde zu einer geraden, stolzen Flamme, die den Raum weithin erhellte.
Da zogen die Kinder weiter und unsere Flamme führte sie an. Wie wunderbar war ihr zumute, als sie nun ins Freie trat und endlich, endlich wieder den Sternenhimmel über sich leuchten sah.
Wie glänzte und strahlte die Nacht! Wie warm der Schein der Kerzen!
Sie lächelte den Sternen zu. Wie gerne wäre sie einer von ihnen gewesen.
Da dies aber eine besondere Nacht war, wurde ihr Wunsch erfüllt. Aus jeder Kerze wurde ein Stern.
Und wenn Du heute in den Nachthimmel blickst, kannst du vielleicht die kleine Flamme sehen, denn sie ist der glänzenste Stern von allen.
Hurra! Die schönste Zeit des Jahres beginnt am Sonntag. Advent, Advent ein Lichtlein brennt. Was gibt es alles zu tun? Erst mal hinsetzen und eine Tasse Tee trinken und Streß vermeiden. Und veilleicht Schlittschuhlaufen gehen. In Köln auf dem Altermarkt zum Beispiel. Und jetzt eine kleine weihnachtlich angehauchte Geschichte angefüllt mit Zimt und Wetterleuchten.
Weihnachtzauber an der Copacabana von Kerstin Surra
Wie wir etwas da ließen.
Es war eine kalte Nacht, als wir an den Ufern der Copacabana durch den Schnee stapften. Nichts hatte diese Landschaft in diesem Moment mit der gleichnamigen Küste Rio de Janeiros gemein, außer der Vorstellung, die wir uns von ihr gemacht hatten. Aber hier in Bolivien war uns eher weihnachtlich zu Mute als danach, in den Bikini zu schlüpfen, um uns mit den Schönheiten unter dem Zuckerhut zu messen. Wir hätten im Vergleich mit ihnen wahrscheinlich so gut abgeschnitten, wie diese Küste des Titicacasees mit der Palmengesäumten Atlantikküste Rios.
Es war erst Tage her, dass wir auf der gefährlichsten Passstraße der Welt in die Yungas gefahren waren und nun konnten wir auf dem Hausberg der Stadt Copacabana, dem Cerro Calvario, dem Herrgott oder Pachamama oder sogar Kotakawana, dem Gott der Fruchtbarkeit, der im Titicacasee lebte, danken, dass wir die Reise überlebt hatten und nicht gleich anderen Fahrzeugen mitsamt der kostbaren Fracht an Mensch und Tier in die Tiefe gerauscht waren.
Neben uns waren zahllose Pilger durch den nieselnden Regen den steile Weg hinauf geächzt. Jeder von ihnen verzichtete heute darauf, die nassen Stufen und Wege auf Knien hinauf zu gelangen, um den Pilgerweg auf gebührende Weise zu begehen. Auch so war der Weg schon steil genug und das Licht des Tages mischte sich langsam mit der Nacht und den Fackeln und Taschenlampen der Menschen, die in schlauer Voraussicht ein Lichtlein bei sich trugen und auch uns den Weg leuchteten. Es war ein besinnlicher Weg, nur untermalt von den murmelnden Gebeten der Pilger. Es wurde ganz still in uns und unter uns lag schwarz der Titicacasee wie ein Spiegel der Nacht.
Gerade als wir den Gipfel des Cerro Calvario erreichten, versank die Sonne in einem aufsehenerregenden Kleid aus schwarzem Samt begleitet von blitzendem Wetterleuchten. Eine reiche Belohnung für die Anstrengungen des Aufstiegs. Wir schauten und staunten. Hinter uns das große Kreuz, vor uns gingen die Himmel auf. Lange standen wir in der Dunkelheit und schauten die blitzenden Wolkengebilde über uns und die Sterne, die langsam aus dem Sonnenuntergang geschlüpft waren. Es lag etwas Heiliges über diesem Ort, egal, an welche Gottheit man glaubte oder auch nicht. Der Abstieg war halsbrecherisch, aber gelang und führte uns zurück in die schlafende Stadt.
Übermütig schlitterten wir auf den alten, glatten Pflastern der Straßen, auf unbeleuchteten Wegen und durch den fallenden Schnee zu einem kleinen Lokal, aus dem noch Licht schimmerte.
Wir waren nicht die einzigen Gäste und der Wirt mit weißer Schürze setzte uns an einen Tisch in dem großen, nicht zur Gänze beheizten Raum, in dem von Gemütlichkeit nichts zu spüren war. Doch Gemütlichkeit hat zuweilen nichts mit der Räumlichkeit zu tun, nichts mit dem Ort, manchmal kommt sie unverhofft.
Bei einer heißen Suppe begannen wir zu tauen. Wir Freunde aus Köln erzählten unserem argentinischen Freund und unserem neu gewonnenen Freund aus Bolivien von unserer Mission „Rheinischen Frohsinns“, die uns in einer lange zurück liegenden „Stunksitzung“ im Kölner Karneval von dem genialischen Jürgen Becker erteilt worden war. Nicht höchstpersönlich, doch mit Nachdruck. Es ging damals um eine Bierbank im Weltraum oder so oder ähnlich, aber vor allen Dingen darum, den Geist des Karnevals in die Welt zu tragen. Auf allen Reisen hatten wir diese Mission im Auge behalten und unsere Pflicht mit viel Humor getan, auch wenn wir keine Rakete besaßen, um dem mehr Gewicht zu verleihen. Doch plötzlich vergaßen wir den Karneval und erzählten unseren amerikanischen Freunden lieber von unseren Weihnachtsbräuchen, hörten im Gegenzug von Grillfesten und anschließenden Partys in der Sommerhitze Argentiniens und der Festlichkeit der Weihnachtsmesse in der großen, alten, dunklen Kathedrale von La Paz. Wir schwelgten in Gänse und Klößchen- rezepten und Weihnachtsmarkt- Glückseligkeit.
Wo es draußen so schön schneite, fiel uns das nicht schwer. Nur eine Sache fehlte uns ganz plötzlich zu unserem Glück. Ein süßer, heißer Glühwein. Unser bolivianischer Freund hatte noch niemals davon gehört und auch der Wirt zuckte nur mit den Schultern. Ihre Neugierde aber war geweckt. Da orderten wir Wein, Orangensaft, Zucker und versuchten auch ein paar Gewürze zu finden, die passten. Dann baten wir den Wirt uns alles zu erhitzen. Der machte ein gequältes Gesicht, weil er um seinen Wein fürchtete, der nicht wirklich viel zu verlieren hatte. Endlich stand der dampfende Topf inmitten mit freudiger Erwartung gefüllter Tassen auf unserem Tisch. Da kamen auch die anderen Gäste näher und schauten zweifelnd auf unser exotisches Tun. Der Wein reichte für alle, Kölner, Freunde, Gäste und Wirt. Bald schon sangen wir Weihnachtslieder und tranken süßen Wein. Es war nicht ganz wie zu Hause, aber anders und schön, denn der Dampf des Glühweins vermischte sich mit den Geschichten und Düften eines anderen Landes, eines anderen Lebens mit den Erinnerungen an die immer gleichen, liebgewonnenen Weihnachtsrituale. Und alle saßen zusammen um einen Tisch herum und spürten den Witz des heißen Weines, der uns langsam zu Kopfe stieg und uns lachen machte. Da war auch ein wenig Karneval darin, ganz unverkennbar. Vielleicht, sollten wir doch noch nach Rio fahren. Wegen des Karnevals, nicht wegen der Bikinis.
Und draußen fiel der Schnee und verwischte unsere Spuren. Doch vielleicht trinkt man noch heute Glühwein an diesem Ort und lacht heimlich oder offen über die verrückten Europäer, die so seltsame Bräuche pflegen, wie das erhitzen von rotem Wein und das hemmungslose Hinzufügen von Zucker. Und wenn ich einen Glühwein trinke, einen echten, nicht ganz so süßen, dann denke ich an vieles, das ich damals hörte, sah und erlebte und an die Copacabana, - die in Bolivien, - die am Titicacasee.
ENDE
Süßes Brot zum Adventkaffee
350 g Mehl, 250g Quark, 200 g Zucker, 50 g gem. Mandeln, 1P. Backpulver, 1 P. Vanillezucker,
8 EL Milch, 8 EL Öl, 1 Msp. Zimt, gem. Nelken und Kardamom,
Alle Zutaten miteinander zu einem glatten Teig verkneten, Teig zu einem Brotlaib formen und bei 180 Grad 30-35 Min. backen.
Ich schaue jetzt mal in die Weihnachtskisten. Was fehlt, muss repariert werden oder ist zu ersetzen? Bei wem wird gefeiert, was muss ich einkaufen und wer wird beschenkt?
Ich freue mich daraufmit meinen Kindern zu basteln und zu backen. Ein Spaziergang im Schnee oder ein Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt mit Freunden. Die Vorfreude kann beginnen.
Ob es wieder Gänsebraten mit Thüringer Klösen gibt? Egal. Das Rezept findet ihr in den nächsten Tagen hier.
Viel Spaß in der Vorweihnachtszeit
Eure Kerstin Surra
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